Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Niederschlagung der Pariser Revolution von 1871 zu tun, daß der französische Sozialismus sehr viel länger als die deutsche Sozialdemokratie einer klassenkämpferischen, ja revolutionären Rhetorik huldigte. Auch von den langfristigen Wirkungen her spricht alles für die These, daß die Kommune nicht die erste moderne Revolution, sondern die letzte Revolution alten Stils war – durchgeführt unter Bedingungen, die ungleich weniger günstig waren als die der Revolutionen von 1789, 1830 und 1848.
Das bürgerliche Frankreich rechnete die Niederwerfung des Pariser Aufstands dem Chef der Exekutivgewalt als Verdienst an: Ende August 1871 wurde Thiers von der Nationalversammlung zum Präsidenten der Republik gewählt. Zu seinem wichtigsten Tätigkeitsfeld wurde bald der Neuaufbau der Armee nach preußischem Vorbild, wozu die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (bei vielen Befreiungen und kürzerer Dienstzeit für Rekruten mit höherem Bildungsgrad) im Jahre 1872 gehörte. Der Präsident näherte sich in dieser Zeit innenpolitisch den Republikanern um Gambetta an, die im Sommer 1871 einige Nachwahlen für sich entschieden hatten. Für Thiers war die Republik die Ordnung, die die Franzosen am wenigsten trennte («le régime qui nous divise le moins») und Ruhe und Ordnung verbürgte, wenn sie denn war, was sie sein mußte, nämlich konservativ («la république sera conservatrice ou ne sera pas»). Solche Bekenntnisse zur Republik forderten die Monarchisten ebenso heraus wie Thiers’ Absage an das Ansinnen der Klerikalen, zugunsten der Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes tätig zu werden und dabei auch einen Krieg mit Italien in Kauf zu nehmen. Im Frühjahr 1873 schlossen sich Orleanisten und Legitimisten zu einer Koalition zusammen. Am 24. Mai kam es zum Schwur: Mit 360 gegen 340 Stimmen sprach die Nationalversammlung Thiers das Mißtrauen aus.
Zu seinem Nachfolger wählten die Abgeordneten Marschall Mac-Mahon, der den klerikalen Monarchisten zuzurechnen war. Als Vizepräsidenten des Rats, das heißt als faktischen Regierungschef, berief er den Chef der Orleanisten, den Herzog Albert de Broglie. Ein Zusammenschluß der Legitimisten und Orleanisten scheiterte an der Hartnäckigkeit, mit der der bourbonische Thronprätendent, der Herzog von Chambord, ein Enkel Karls X., auf dem Lilienbanner als Staatsflagge bestand, was Mac-Mahon schon aus Rücksicht auf die Armee ablehnte. Hinter dem Symbolstreit verbarg sich ein tieferer Gegensatz: Die Orleanisten wünschten ein Königtum mit starkem Parlament wie in England, die Legitimisten eine Monarchie im Sinne der Zeit vor der Julirevolution von 1830. Mit vereinter Kraft gelang es den Monarchisten immerhin, im November 1873 eine siebenjährige Amtszeit des Präsidenten Mac-Mahon zu beschließen: eine Festlegung, die den späteren Übergang zur Monarchie erleichtern sollte. Im Mai 1874 zerbrach die Koalition, die hinter dem Kabinett de Broglie stand: 50 Legitimisten stimmten mit den Bonapartisten und der Linken gegen die Regierung und brachten sie zu Fall.
Die Dritte Republik war um diese Zeit noch immer ein Provisorium. Seit dem November 1873 arbeitete jedoch eine Kommission von 30 Abgeordneten im Auftrag der Nationalversammlung am Entwurf einer Verfassung. Das Ergebnis langer Kompromißsuche waren die drei Verfassungsgesetze vom Februar und Juli 1875. Das erste regelte die Organisation des Senats, das zweite die Organisation der Staatsgewalten, das dritte die Beziehungen der Staatsgewalten untereinander. Von den 300 Senatoren wurden 225 für eine Amtszeit von neun Jahren gewählt, wobei den zwei größten, Seine und Nord, je fünf, den sechs nächstgrößeren je vier und den übrigen Departements je zwei Senatoren vorstanden. Das Territorium von Belfort (jener Teil des vom Deutschen Reich annektierten Departements Haut-Rhin, den Frankreich bei den Friedensverhandlungen den Deutschen hatte abtrotzen können), die 1848 gebildeten drei Departements in Algerien und die vier Überseekolonien Martinique, Guadeloupe, Réunion und Französisch-Indien wählten je einen Senator (wobei in Algerien nur die weiße, in den «alten Kolonien» seit 1848 auch die nichtweiße Bevölkerung das Stimmrecht hatte). 25 Senatoren wurden von der Deputiertenkammer auf Lebenszeit gewählt und waren unabsetzbar: eine Bestimmung, die durch eine Verfassungsänderung von 1884 wieder beseitigt wurde. Fortan gab es nur noch 225 Senatoren, die alle auf Grund desselben Wahlrechts gewählt
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