Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
die bestehenden bürgerlichen Parteien, obenan die liberalen. Eben daraus erklärt sich zu einem guten Teil die Heftigkeit, mit der der Liberalismus im Bunde mit der Staatsmacht dem politischen Katholizismus nach 1870 entgegentrat.[ 15 ]
    Ein gespaltener Nationalstaat: Italien nach der Einigung
    Der Gegensatz zwischen Katholizismus und Liberalismus war eine von drei Spaltungen, die den italienischen Nationalstaat seit seiner Gründung prägten. Die anderen beiden waren die zwischen Nord und Süd und die zwischen wahlberechtigten und nichtwahlberechtigten Italienern. Über die Probleme des «mezzogiorno» wurde erstmals offen und breit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre diskutiert. Die frühen «meridionalisti», Autoren wie Sidney Sonnino, Leopoldo Franchetti und Pasquale Villari, verwiesen mit als erste auf die strukturelle Unterentwicklung des Südens als Folge jahrhundertealter feudaler Ausbeutung und extensiv betriebener Landwirtschaft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging Giustino Fortunato einen Schritt weiter: Infolge der Zolleinheit des Nationalstaates sei der von Natur aus arme, agrarische Süden vom reichen, industrialisierten Norden gewissermaßen kolonialisiert worden.
    Antonio Gramsci, der an Marx geschulte Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens, hat erstmals 1926 die ausgebliebene Agrarrevolution im Süden als das große Versäumnis des Risorgimento bewertet. Die neuere sozialgeschichtliche Forschung mit Giuseppe Galassi und Rosario Romeo an der Spitze ist ihm darin nicht gefolgt. Sie verweist darauf, daß gerade die Garibaldi zuneigenden Kleinbürger entschiedene Gegner einer Agrarrevolution waren und die Bauern des Südens den neuen Staat in Gänze ablehnten. Die Schaffung des Nationalstaates, der dem Süden von den liberalen Eliten förmlich aufgezwungen werden mußte, war aus dieser Sicht die Voraussetzung für die überwindung der Rückständigkeit – freilich nur eine notwendige und noch keine ausreichende Voraussetzung.
    Ein Vergleich mit Deutschland liegt nahe. Dort gab es kein wirtschaftliches Nord-Süd-, sondern ein West-Ost-Gefälle. Dem industriellen Westen stand ein agrarischer Osten, den Gebieten der Grundherrschaft und selbständiger Bauernwirtschaft im Westen und Süden das Gebiet der Gutsherrschaft im Nordosten gegenüber, wo wenige Rittergutsbesitzer viele Landarbeiter beschäftigten. Die italienische Führungsmacht, das Haus Savoyen, verkörperte den industriell entwickelten Norden; die Hohenzollern hatten ihre Stammlande im agrarischen Ostelbien, beherrschten seit 1815 aber auch den industriell fortgeschrittenen Westen Deutschlands. Preußen war seitdem zu einem Ausgleich zwischen West und Ost gezwungen. Eine Vernachlässigung des zurückgebliebenen Ostens durch den Staat war im geeinten Deutschland nicht vorstellbar; im geeinten Italien blieb der rückständige Süden durch das Erbe von Jahrhunderten drückender Fremdherrschaft von Arabern und Byzantinern bis hin zu den spanischen Bourbonen geprägt.
    In der Fremdherrschaft lag auch ein Grund, weshalb das Königreich Sardinien-Piemont nicht andere Dynastien zu seinen dauerhaften Verbündeten machen und an der Bildung des Nationalstaats beteiligen konnte: Die Bourbonen in Neapel und die Habsburger im nördlichen Mittelitalien hatten nie denselben Rückhalt in der Bevölkerung wie die Wittelsbacher in Bayern oder die Wettiner in Sachsen. In Deutschland konnten sich die Gründung des Nationalstaats und die Nationsbildung mit den Dynastien vollziehen, die 1866 ihre Kronen behalten hatten. In Italien war die Entmachtung aller nichtpiemontesischen Herrscher die Voraussetzung der Gründung des Nationalstaates. Schon deshalb war ein föderalistischer Staatsaufbau wie in Deutschland nicht möglich, die unitarische Lösung faktisch ohne Alternative.
    Seit den siebziger Jahren erweiterte sich die wirtschaftliche Schere zwischen Nord und Süd. Nach dem Wiener Börsenkrach von 1873, der eine europaweite Wirtschaftskrise auslöste, wurde in Italien wie überall auf dem europäischen Kontinent der Ruf nach dem Schutz der eigenen Industrien laut. Der Zolltarif von 1878 kam dem Verlangen der Protektionisten entgegen und der Entwicklung einer Schwerindustrie in Norditalien zugute. Der nach wie vor fast ausschließlich landwirtschaftlich geprägte Süden aber fiel immer mehr hinter den Norden und die Mitte zurück. Das lag an den Schutzzöllen anderer Länder, seit den achtziger Jahren aber auch an den Getreideimporten aus

Weitere Kostenlose Bücher