Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
auch nach 1871 darauf, daß die Erreichung der Einheit die Sache der Freiheit fördern würde. Aus der ersten Reichstagswahl im März 1871 waren sie mit 23,3 Prozent vor den Konservativen mit 12,2 und der Fortschrittspartei mit knapp 9 Prozent als stärkste Partei hervorgegangen. Zusammen mit der kurzlebigen Liberalen Reichspartei, die ihre Hochburgen in Süddeutschland hatte, und den Freikonservativen verfügten sie über eine knappe Mehrheit im Reichstag. Auf diese Fraktionen vor allem stützten sich die Mehrheiten für die Gesetze, bei denen die nationalliberale Handschrift besonders deutlich war: die Reichsgesetze über die Währungs- und Münzeinheit aus den Jahren 1871 bis 1875 und das preußische Gesetz über die Reform der Kreisordnung von 1872, das die gutsherrliche Polizei abschaffte, das Amt des Landrats an die Qualifikation zum Verwaltungsjuristen band und die Grundlagen eines neuen Zweiges der Justiz, der Verwaltungsgerichtsbarkeit, schuf.
Am folgenschwersten aber war das Zusammenwirken der Nationalliberalen mit Bismarck bei den Kulturkampfgesetzen. Die Nationalliberalen waren die geborenen Gegner des weltlichen Machtanspruchs der katholischen Kirche und damit des politischen Katholizismus: Den Kulturkampf führten sie vor allem deshalb mit letzter Entschiedenheit, weil die erstarkende katholische Volksbewegung den Anspruch des Liberalismus, die Gesellschaft insgesamt zu repräsentieren, in Frage stellte. Wenn das im Dezember 1870 gegründete katholische Zentrum in die bisherige Wählerschaft der Nationalliberalen einbrach, dann war nicht nur deren bisherige Position als stärkste Partei gefährdet. Man mußte überdies damit rechnen, daß es eines Tages zu einer Mehrheitsbildung aus Konservativen und Katholiken, also einer Mehrheit gegen die Liberalen, kam: eine Konstellation, die aus Sicht der Nationalliberalen, aber auch der Fortschrittspartei einer politischen Katastrophe gleichkam.
Hinter dem Kulturkampf standen aber nicht nur parteitaktische Überlegungen. Für große Teile des evangelischen Deutschland bedeutete die Reichsgründung unter preußischer Führung den Sieg des Protestantismus über den Katholizismus und damit die politische Vollendung der Reformation. Die kulturelle Hegemonie des Protestantismus sollte die politische Hegemonie Preußens ergänzen und untermauern: Das war die Quintessenz der nationalliberalen und freikonservativen Vorstellungen von der Nationsbildung. Die seit Jahrhunderten bestehende Kulturnation war großdeutsch; sie schloß nach verbreiteter Meinung das gesamte deutsche Sprachgebiet ein. Nachdem sich Österreich seit langem aus Deutschland hinausentwickelt hatte, sollte sich nun aus der größeren deutschen Kulturnation eine kleindeutsche Staatsnation herausentwickeln. Das protestantische Profil, das ihr Nationalliberale und Freikonservative, aber auch viele Anhänger der Fortschrittspartei und der Konservativen geben wollten, war aber von Anfang an mit einer Ausgrenzung verbunden: Die Katholiken mußten, wenn sie als gute Deutsche gelten wollten, glaubwürdig zum Ausdruck bringen, daß ihre Loyalität gegenüber dem deutschen Nationalstaat größer war als die gegenüber der übernationalen römischen Kirche; sie mußten überdies neben dem politischen Vorrang Preußens auch den kulturellen Vorrang des Protestantismus anerkennen. Der Kulturkampf war aus liberaler und protestantischer Sicht also ein notwendiger Teil der Nationsbildung, ja grundlegend für das Nationalbewußtsein der Deutschen im Kaiserreich von 1871.
Bismarck ging es beim Kulturkampf um die Staatsräson des Deutschen Reiches, so wie er sie verstand. Im Juli 1871 setzte er die Auflösung der «Katholischen Abteilung» im preußischen Kultusministerium durch, die er verdächtigte, über den katholischen Klerus die polnische Nationalbewegung in Posen und Westpreußen zu fördern. Vom Vorwurf, die katholische Kirche unterstütze die polnische Sache, war es nur ein Schritt zu der Behauptung, das Zentrum sei auch mit anderen «Reichsfeinden» wie den Welfen, Dänen, Elsässern und Lothringern verbunden und damit selbst «reichsfeindlich». Empört war Bismarck über das Ansinnen prominenter Katholiken, Deutschland möge sich für die Wiederherstellung des Kirchenstaates einsetzen, also mit Italien brechen. In den Bemühungen des Zentrums, Grundrechte, namentlich solche zur religiösen und kirchlichen Freiheit, in die Reichsverfassung aufzunehmen, sah er einen Anschlag auf die Kulturhoheit der
Weitere Kostenlose Bücher