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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Einzelstaaten. Dem Kanzler dürfte es auch gelegen gekommen sein, daß die Nationalliberalen in den ersten Jahren nach 1871 ihre kämpferischen Energien ganz auf den Konflikt mit der katholischen Kirche und nicht auf die Parlamentarisierung des Reiches konzentrierten.
    Das erste Kulturkampfgesetz war der «Kanzelparagraph» vom Dezember 1871, der auf eine bayerische Initiative zurückging. Die neue Strafbestimmung untersagte es Pfarrern, in Ausübung ihres Amtes staatliche Angelegenheiten in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zu behandeln. Im März 1872 folgten das preußische Schulaufsichtsgesetz, das die geistliche Orts- und Schulinspektion beseitigte, und im Juli das Jesuitengesetz, das alle Niederlassungen der Societas Jesu im Deutschen Reich verbot und Mitgliedern des Ordens Aufenthaltsbeschränkungen auferlegte. Vorausgegangen waren antijesuitische Kampagnen der «Altkatholiken», die sich auf Grund des Unfehlbarkeitsdogmas von der katholischen Kirche getrennt hatten, und des 1863 gegründeten militant liberalen Deutschen Protestantenvereins. Nur wenige entschiedene Liberale wie Ludwig Bamberger und Eduard Lasker stimmten gegen das Jesuitengesetz, das liberale Grundsätze eklatant verletzte.
    Die nächsten Kampfmaßnahmen waren die preußischen «Maigesetze» von 1873, deren wichtigstes die Übernahme eines geistlichen Amtes vom Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiums und einem «Kulturexamen» in den Gebieten Philosophie, Geschichte und deutsche Literatur abhängig machte. Im gleichen Jahr führte Preußen, 1875 auch das Reich, die obligatorische Zivilehe ein. Statt der Kirchen beurkundeten fortan die neugeschaffenen Standesämter den Personenstand, also Geburt, Heirat und Todesfall. Den schärfsten Bruch mit den Prinzipien des Rechtsstaats bildeten die Kulturkampfgesetze von 1874 und 1875. Im Mai 1874 verabschiedete der Reichstag das Expatriierungsgesetz, das es den Regierungen erlaubte, Geistliche auf einen bestimmten Aufenthaltsort zu beschränken, auszubürgern und aus dem Reichsgebiet zu verweisen. Ein preußisches Gesetz vom gleichen Monat ermächtigte den Kultusminister, Bistümer, die infolge staatlichen Eingriffs vakant waren, kommissarisch verwalten zu lassen. Um dem Gegner die materiellen Grundlagen seiner Existenz zu entziehen, sperrte das preußische «Brotkorbgesetz» im April 1875 alle staatlichen Geldzuweisungen an die katholische Kirche. Im Mai löste Preußen auf der Grundlage des «Klostergesetzes» die Niederlassungen aller Orden auf, soweit sie sich nicht ausschließlich mit der Krankenpflege befaßten. Als Schlußstein kann man die Aufhebung der Religionsartikel der preußischen Verfassung im Juni 1875 betrachten: ein widerwilliges Eingeständnis von Regierung und Parlament, daß die Kulturkampfgesetze zumindest teilweise mit der Verfassung nicht zu vereinbaren waren.
    Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten unbedenklich war nur eines der Kulturkampfgesetze: das über die Zivilehe. Es entsprach dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität des modernen Staates, beseitigte ein unzeitgemäßes kirchliches Vorrecht und gilt noch heute. Alle anderen Gesetze waren in unterschiedlichem Maß illiberal, repressiv und diskriminierend. Die Nationalliberalen, die eigentliche Kulturkampfpartei, glaubten, mit ihrem Kampf gegen die katholische Kirche und den politischen Katholizismus der Sache des historischen Fortschritts zu dienen. Durch die Mittel, derer sie sich im Bunde mit der Staatsgewalt in diesem Kampf bedienten, erschütterten sie jedoch die Glaubwürdigkeit des Liberalismus.
    Die Wirkung der Kulturkampfgesetze war eine ganz andere als die, die Bismarck und die ihn stützenden Parteien erwartet hatten. Mitte der siebziger Jahre waren zwar viele katholische Pfarrereien vakant und die meisten preußischen Bischöfe in Strafhaft genommen, abgesetzt oder ausgewiesen. Aber das war kein Erfolg für Regierung und Parlamentsmehrheit. Die Gläubigen hielten zu den verfolgten Geistlichen und wandten sich vermehrt dem katholischen Zentrum zu, das bei der Reichstagswahl von 1874, an der erstmals auch die männlichen Bewohner des neuen Reichslandes Elsaß-Lothringen teilnehmen durften, doppelt so viele Stimmen erhielt wie 1871. Bei den städtischen und ländlichen Unterschichten war die katholische Partei allerdings sehr viel erfolgreicher als beim gebildeten und besitzenden Bürgertum, das vielerorts weiter für liberale Kandidaten stimmte.
    Die soziale Differenzierung innerhalb des

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