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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Kleinaktionäre. Strousberg war kein Liberaler; er hatte dem Norddeutschen Reichstag als Konservativer angehört. Ein liberaler Jude hingegen war der Parlamentarier, der das «System Strousberg» am 7. Februar 1872 im preußischen Abgeordnetenhaus aufdeckte: Eduard Lasker. Die Judenfeinde ließen sich dadurch nicht beirren: Judentum, Börsenkapital und Liberalismus verschmolzen für sie immer mehr zu einer Einheit.
    Mit der Wirtschaftskrise von 1873 endete jene kurze, alles in allem judenfreundliche Zeit, die mit dem Aufschwung der liberalen Bewegung um 1859 begonnen hatte. Die Nationalliberalen mochten sich noch so national fühlen, für die Judengegner waren sie Handlanger des jüdisch gelenkten internationalen Börsenkapitals. Mitte 1875 begann die konservative «Kreuz-Zeitung» mit der Veröffentlichung der sogenannten «Ära-Artikel»: einer Kampagne, in deren Verlauf nicht nur Juden und Liberale ganz allgemein, sondern auch Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder, Preußens geheimer Staatsfinancier im Krieg von 1866, ja der Reichskanzler selbst persönlich angegriffen wurden. Judenfeindliche Artikel erschienen um dieselbe Zeit auch in der wichtigsten Zeitschrift des katholischen Zentrums, der «Germania», und den «Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland». Die geistliche Bekräftigung dieser Attacken blieb nicht aus: Der Bischof von Mainz, Wilhelm von Ketteler, wertete den Kulturkampf als eine «freimaurerisch-jüdisch-liberale Verschwörung» gegen die katholische Kirche.
    Der alte religiöse Antijudaismus starb in den siebziger Jahren nicht ab. Er floß vielmehr in den «modernen Antisemitismus» mit ein, der nur insofern «modern» war, als er sich gegen das moderne, emanzipierte Judentum richtete und dieses mit rein weltlichen Parolen bekämpfte. Der Begriff «Antisemitismus» tauchte erstmals im Herbst 1879 im Umfeld des Schriftstellers Wilhelm Marr auf. Marr und seine Gesinnungsfreunde porträtierten die Juden als Agenten einer Spielart der Moderne, von der sich unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft bedroht fühlten. In der vielgelesenen «Gartenlaube» stellte der Publizist Otto Glagau die Juden als Vertreter des unproduktiven, «raffenden» Kapitals dem produktiven, «schaffenden» Kapital der Christen gegenüber und behauptete, die soziale Frage sei wesentlich Gründer- und Judenfrage. Der Berliner Stadtgerichtsrat Carl Wilmanns prangerte in einer Schrift aus dem Jahr 1876 jüdische Bankiers als Mitglieder einer «Goldenen Internationale» an, was es leicht machte, sie der nationalen Unzuverlässigkeit zu verdächtigen und in die Nähe der angeblich ebenfalls jüdisch geprägten «roten Internationale» um Karl Marx zu rücken.
    Ob ein Jude getauft war oder nicht, spielte für den «modernen Antisemitismus» keine Rolle. Das Judentum war aus dieser Sicht eine unabänderliche Naturtatsache. Die Säkularisierung der Judenfeindschaft sollte dieser den Charakter der Wissenschaftlichkeit und der Objektivität verleihen, sie also als «modern» erscheinen lassen. Die antisemitische Bewegung der siebziger Jahre war kein Protest gegen die Reichsgründung als solche, wohl aber gegen alles, was diese mit dem Liberalismus verband.
    Gegen Liberalismus und Judentum ließen sich besonders leicht Schichten mobilisieren, die sich von der fortschreitenden Industrialisierung bedroht fühlten: Bauern, Handwerker und kleine Kaufleute. Aber auch in höheren Schichten der Gesellschaft fand der Antisemitismus seine Befürworter und Anhänger. Der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker distanzierte sich 1879 zwar vom Rassenhaß, erhielt aber breite Zustimmung für seine Angriffe auf das «moderne Judentum», das zunehmend Presse und Politik beherrsche und eine große Gefahr für das deutsche Volksleben bilde. Großes Aufsehen erregte im gleichen Jahr der angesehene Historiker Heinrich von Treitschke mit einem Artikel in den «Preußischen Jahrbüchern», in dem er vor den Folgen der jüdischen Einwanderung aus Polen warnte und die antijüdische Bewegung «tief und stark» nannte: «Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück.»
    Treitschke bemühte sich zwar, Folgerungen vorzubeugen, die er für falsch hielt: Eine Zurücknahme oder auch nur Schmälerung der Judenemanzipation wäre «offenbares Unrecht», und

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