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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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gewesen; er hatte die Nation gespalten und nicht geeint. Das «internationale Judentum» eignete sich für die Rolle des inneren Feindes sehr viel besser, weil es sich mit allem verbinden ließ, was Deutsche als Bedrohung empfanden: mit dem internationalen Börsenkapital wie mit dem internationalen Sozialismus. Protestanten und Katholiken, gläubige und ungläubige Christen konnten in diesem Punkt übereinstimmen. Weil dem so war, hatte der Antisemitismus auf die politische Kultur Deutschlands langfristig eine breitere und tiefere Wirkung als der Antikatholizismus.
    Daß sich der Liberalismus in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in der Defensive befand, lag jedoch nicht allein und nicht einmal vorrangig an der Agitation der Antisemiten. Wichtiger war, daß Fürst Bismarck (den Titel verdankte er seinen Verdiensten um die Reichsgründung) seit 1875 eine innenpolitische Wende vorbereitete. In diesem Zusammenhang gehörte ein Versuch des Kanzlers, den Führer der größten Partei, der Nationalliberalen, enger als bisher an sich zu binden: Er bot Rudolf von Bennigsen an, als Staatsminister in die preußische Regierung einzutreten und gleichzeitig das Amt des Staatssekretärs des Reichskanzleramtes zu übernehmen. Da nach Artikel 9 der Reichsverfassung niemand gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und des Reichsrates sein durfte, hätte Bennigsen in diesem Fall sein Abgeordnetenmandat niederlegen müssen, was seine politische Isolierung und Entmachtung zur Folge haben konnte. Um dieser Gefahr zu entgehen, schlug Bennigsen Bismarck vor, zwei weiteren führenden Nationalliberalen, nämlich dem damaligen Breslauer, wenig später Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck und dem bayerisch-schwäbischen Gutsbesitzer Franz Schenk von Stauffenberg, die beide dem linken Parteiflügel angehörten, Regierungsämter zu übertragen. Wäre der Reichskanzler auf dieses Ansinnen eingegangen, hätte er einen großen Schritt in Richtung parlamentarische Monarchie getan: eine Entwicklung, in die zu gehen für Bismarck nicht in Frage kam. Die «Ministerkandidatur Bennigsen» hatte sich damit erledigt.
    Die Nationalliberalen waren in der ersten Hälfte der siebziger Jahre alles in allem treue Verbündete Bismarcks gewesen. 1875 aber entschloß sich der Reichskanzler zu einer Kursänderung: dem Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll und damit zur Abkehr vom wirtschaftlichen Liberalismus. Bismarck war kein Protektionist aus Überzeugung; es ging ihm in erster Linie um finanzpolitische Zweckmäßigkeiten. Bislang waren «Matrikularbeiträge» der Einzelstaaten die Hauptquelle der Reichseinnahmen; das Reich war also ein Kostgänger der Länder. Schutzzölle und staatliche Monopole, beispielsweise für Tabak, und indirekte Reichsbesteuerung, etwa auf Bier, Branntwein und Kaffee, sowie eine Erhöhung der Tabaksteuer hätten diese Anhängigkeit beseitigt oder zumindest gemildert und das Reich so auf eine solidere finanzielle Grundlage gestellt. Die Nationalliberalen aber lehnten in ihrer großen Mehrheit Staatsmonopole und Schutzzölle grundsätzlich ab, und neuen Reichssteuern wollten sie nur unter der Bedingung zustimmen, daß der Reichstag für einen Teil der Einnahmen dasselbe jährliche Bewilligungsrecht erhielt, das er im Hinblick auf die Höhe der Matrikularbeiträge besaß.
    Die Nationalliberalen insgesamt auf seine Seite zu ziehen, konnte Bismarck also nicht hoffen. Bei der «Ministerkandidatur» ging es denn auch um etwas anderes, nämlich um die Spaltung der Partei und die Bildung einer neuen Mehrheit. Dieser hätten außer dem rechten Flügel der Nationalliberalen die Freikonservativen und die Konservativen angehören können, die seit ihrer Umbenennung in «Deutschkonservative» Partei im Jahre 1876 begonnen hatten, sich in eine «nationale» und gouvernementale Partei zu verwandeln. Als Partner kam aber auch das Zentrum in Frage: Die katholische Partei, seit 1874 die größte deutsche Partei, wenn auch nicht die größte Reichstagsfraktion, war nicht minder als die Konservativen eine Gegnerin des Wirtschaftsliberalismus, wobei beide Parteien sich vor allem für eine Einschränkung der Gewerbefreiheit zugunsten des selbständigen Handwerks einsetzten. Eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum rückte Ende der siebziger Jahre aber auch aus einem anderen Grund in den Bereich des Vorstellbaren: Seit der «realpolitische» Kardinal Pecci als Papst Leo XIII. die Nachfolge des im Februar 1878 verstorbenen Pius’ IX. angetreten hatte,

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