Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
von den «jüdischen Mitbürgern» könne nicht mehr gefordert werden, als daß sie Deutsche würden und sich als Deutsche fühlten. Aber mit seinem Aufsatz hatte er einen Damm eingerissen: Der Antisemitismus drang mehr und mehr ins liberale Bürgertum ein und gewann eine breite Anhängerschaft unter den Studenten. Der soziale Aufstieg des Antisemitismus folgte dem sozialen Aufstieg der Juden: Die Zahl der akademischen Judengegner wuchs mit der Zahl akademisch gebildeter Juden.
Es waren nicht nur liberale Juden, die sich gegen die Bekenntnisse von Treitschke, Stoecker und anderen Bekundungen von Judenfeindschaft zur Wehr setzten. Kronprinz Friedrich gab zwischen 1879 und 1881 mehrfach seiner Empörung Ausdruck. Im November 1879 protestierten liberale Persönlichkeiten unter Führung des Berliner Oberbürgermeisters und ehemaligen Reichstagspräsidenten Max von Forckenbeck gegen Rassenhaß, Intoleranz und Fanatismus. Der schärfste Kritiker Treitschkes war der berühmte Althistoriker Theodor Mommsen, wie jener Professor an der Berliner Universität. Treitschke leiste Auffassungen Vorschub, die Juden seien «Mitbürger zweiter Klasse», und predige damit den Bürgerkrieg, schrieb Mommsen. «Der Bürgerkrieg einer Majorität gegen eine Minorität, auch nur als Möglichkeit, ist eine nationale Kalamität.»
Im Zeichen von Börsenkrach und Wirtschaftskrise breitete sich der Antisemitismus nicht nur in Deutschland aus. In Österreich, Ungarn und Frankreich hatten die Judengegner vor allem in den achtziger Jahren starken Zulauf, und um dieselbe Zeit mehrten sich in Rußland antijüdische Ausschreitungen. Was aber den «modernen Antisemitismus» anging, so fiel Deutschland eine Pionierrolle zu. Die deutschen Antisemiten Übernahmen an Argumenten, was ihnen ins Konzept paßte: von Charles Darwin und Herbert Spencer die Lehre vom Kampf ums Dasein, in dem sich mit Naturnotwendigkeit immer die Stärksten durchsetzten, und vom Grafen Joseph Arthur de Gobineau, dem einstigen Sekretär Tocquevilles, was es mit der Ungleichheit der menschlichen Rassen und der Überlegenheit der «arischen» Rasse auf sich habe. Blinder Judenhaß bedurfte keiner intellektuellen Rechtfertigung. Doch der «Radauantisemitismus» war mittlerweile nicht mehr die gefährlichste Form der Judenfeindschaft. Für die Juden und die politische Kultur bedrohlicher war der «salonfähige» Antisemitismus, der die «Judenfrage» nicht mit roher Gewalt, sondern mit politischen Mitteln lösen wollte und eben dafür den Schein wissenschaftlicher Begründungen benötigte.
Was immer die Proteste der Liberalen bewirken mochten, die Judenfeinde ließen sich davon nicht beeindrucken. Ende 1880 rief der positivistische Populärphilosoph Eugen Dühring in seinem Buch «Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage» die Völker zum Kampf gegen das «übel der Verjudung» und die «Judenherrschaft» auf. Er nannte die Juden ein «inneres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden». Sieben Jahre später bezeichnete der angesehene Orientalist Paul de Lagarde, der ursprünglich Paul Anton Bötticher hieß, die Juden als «wucherndes Ungeziefer», das es zu zertreten gelte. «Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.»
Die Vernichtung als letzte Bestimmung der Juden: Für die entschiedenen Antisemiten ergab sich dieser Schluß aus ihrer Überzeugung, daß für die Juden auf dieser Welt kein Platz war, weil sie überall und darum nirgends zuhause waren. Sie waren aus dieser Sicht entweder keine Nation oder eine Nation in der Nation, in jedem Fall aber ein Fremdkörper. Ihr eigenes «Weltbürgertum» hatten die Deutschen spätestens mit der Errichtung des Nationalstaates von 1871 hinter sich gelassen. Von den Juden hingegen meinten viele Deutsche, daß sie dazu nicht willens oder nicht fähig seien.
Hinter dem «modernen Antisemitismus» deutscher Prägung verbarg sich eine tiefe Unsicherheit vieler Deutscher hinsichtlich ihrer eigenen nationalen Identität. Nachdem sie den äußeren «Erbfeind» Frankreich bezwungen hatten, begann die Suche nach dem inneren «Erbfeind», der die Frage beantworten helfen sollte, was deutsch und was undeutsch war. Der Kulturkampf gegen die ultramontanen «Römlinge» war nicht sonderlich erfolgreich
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