Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
standen die Aussichten auf einen Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der katholischen Kirche sehr viel besser als zuvor.
Was die Einführung von Schutzzöllen anging, so saßen deren entschiedenste parlamentarische Unterstützer in den Reihen der Freikonservativen und auf dem rechten Flügel der Nationalliberalen. Ihren stärksten Rückhalt hatten sie in der rheinisch-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie und der süddeutschen Baumwollindustrie. Seit Beginn der Wirtschaftskrise im Jahre 1873 fühlten sich beide Branchen mehr denn je von der britischen Konkurrenz bedroht. Sie spielten deshalb auch eine führende Rolle bei der Gründung des ersten Spitzenverbandes der deutschen Unternehmer, des Centralverbands Deutscher Industrieller, im Februar 1876, der offen für Schutzzölle eintrat. Die getreideexportierenden Rittergutsbesitzer Ostelbiens, organisiert in der gleichfalls 1876 gegründeten Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, forderten um diese Zeit noch keine Abkehr vom Freihandel. Aber es war absehbar, daß diese Haltung sich ändern würde, wenn die Einfuhr von billigem Getreide aus Nordamerika und Rußland die Marktverhältnisse zu Ungunsten der ostdeutschen Gutswirtschaft veränderte.
Anfang 1878 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Bismarck und den Nationalliberalen auf fast schon dramatische Weise. Der Reichskanzler unterbreitete dem Reichstag im Februar eine Vorlage zur Erhöhung der Tabaksteuer; die Nationalliberalen verlangten für ihre Zustimmung einen Preis, den der Kanzler nicht zahlen wollte: gesetzliche Garantien für das Budgetrecht des Reichstags und das preußische Abgeordnetenhaus. Als Bismarck am 22. Februar dann auch noch im Reichstag erklärte, daß die Erhöhung der Tabaksteuer für ihn nur ein Schritt auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, dem Tabakmonopol, sei, war jeder Kompromiß ausgeschlossen. Wenig später traten die letzten beiden preußischen Minister zurück, die noch als Vertreter des «Ressortliberalismus» galten: Handelsminister von Achenbach und Finanzminister von Camphausen. Der offene Bruch zwischen Bismarck und dem Liberalismus war nur noch eine Frage der Zeit.
Die innenpolitische Lage war also bereits gespannt, als im späten Frühjahr 1878 kurz hintereinander zwei Ereignisse eintraten, die die politische Landschaft Deutschlands grundlegend verändern sollten. Am 11. Mai schoß der Klempnergeselle Max Hödel auf der Berliner Straße Unter den Linden auf den einundachtzigjährigen Kaiser, traf ihn aber nicht. Am 2. Juni wurde Wilhelm I. ganz in der Nähe des ersten Tatortes durch Schüsse des Nationalökonomen Dr. Karl Eduard Nobiling schwer verletzt. Hödel hatte früher der Sozialistischen Arbeiterpartei, der im Mai 1875 in Gotha gegründeten Nachfolgepartei der bis dahin getrennten Parteien der Sozialdemokraten und der Lassalleaner, angehört, war aber von dieser wegen der Unterschlagung von Parteigeldern ausgeschlossen worden. Nobiling war irgendeine Verbindung zum Sozialismus nicht nachzuweisen. Doch auf juristisch zwingende Beweise für eine sozialdemokratische Urheberschaft der Attentate kam es Bismarck nicht an. Sein Entschluß stand fest: Er wollte die Mordanschläge für eine Generalabrechnung mit dem Sozialismus und zugleich mit dem Liberalismus nutzen.
Schon nach dem ersten Attentat hatte der Kanzler dem Reichstag ein Sozialistengesetz vorgelegt, das zwar kein Verbot der Partei, wohl aber die Möglichkeit vorsah, sozialdemokratische Vereine, Versammlungen und Druckschriften zu verbieten. Eine große Mehrheit der Abgeordneten, einschließlich der meisten Nationalliberalen, sprach sich gegen den Entwurf aus. Nach dem zweiten Anschlag löste Bismarck am 11. Juni den im Januar 1877 gewählten Reichstag auf. Im anschließenden Wahlkampf machten die regierungsnahen Zeitungen Front gegen die Nationalliberalen, die durch ihr Nein zu einem Gesetz gegen die Sozialdemokratie eine moralische Mitschuld am Attentat des Dr. Nobiling trügen. Die konservative «Kreuz-Zeitung» nannte den Sozialismus sogar eine konsequente Fortbildung des Liberalismus und sprach von reißenden Fortschritten der «Verjudung», die von den Liberalen gefördert würde. Der Appell an die konservativen und nationalen Instinkte war erfolgreich. Aus der Reichstagswahl vom 30. Juli 1878 gingen die Deutsch-Konservativen und die Freikonservativen gestärkt, die Nationalliberalen, die Fortschrittspartei und die Sozialdemokraten geschwächt hervor; das Zentrum konnte sich
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