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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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behaupten.
    Nach dem Verlust von 29 ihrer bisher 128 Mandate begannen die Nationalliberalen auf Bismarcks Linie umzuschwenken. Die Mehrheit unter Bennigsen war bereit, dem von der Regierung vorgelegten Entwurf eines «Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» im großen und ganzen zuzustimmen. Eine linke Minderheit um Eduard Lasker wollte zunächst an der Ablehnung eines rechtsstaatswidrigen Ausnahmegesetzes festhalten. Nachdem sie einige Milderungen und die Befristung des Gesetzes auf zweieinhalb Jahre durchgesetzt hatte, entschied sie sich dann aber doch für Zustimmung. Am 18. Oktober 1878 verabschiedete der Reichstag die Vorlage mit 221 gegen 149 Stimmen. Die Nein-Stimmen kamen vor allem vom Zentrum, der Fortschrittspartei und den Sozialdemokraten.
    Das Sozialistengesetz erlaubte das Verbot sozialdemokratischer Vereine, Versammlungen und Druckschriften sowie die Ausweisung von sozialdemokratischen Agitatoren. Es sah zudem die Möglichkeit vor, in «gefährdeten» Bezirken für die Dauer eines Jahres den «kleinen Belagerungszustand» zu verhängen. Das Gesetz vom 18. Oktober 1878 war ein Ausnahmegesetz, das sich gegen bestimmte Gesinnungen und keineswegs nur gegen klar definierte Handlungen richtete. Es verstieß damit gegen elementare Grundsätze des liberalen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit. Das Ja der Nationalliberalen zum Sozialistengesetz war ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Liberalismus: Die «Reichsgründungspartei» hatte zumindest teilweise vor Bismarck und der von ihm verkörperten Staatsmacht kapituliert.
    Der deutschen Sozialdemokratie und ihren Anhängern brachte das Gesetz, das bis 1890 immer wieder verlängert wurde, Not und Verfolgung. Es gab über 900 Ausweisungen aus Gebieten, in denen der Belagerungszustand herrschte, und etwa 1500 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen in einer Gesamthöhe von etwa 1000 Jahren. Eine Zerschlagung der Sozialdemokratie aber gelang Bismarck nicht. Wider Willen förderte der Reichskanzler sogar die Ausbreitung einer Arbeiterbewegungskultur: Sport- und Gesangvereine sowie freiwillige Hilfskassen traten an die Stelle der verbotenen Organisationen. Eine andere unbeabsichtigte Wirkung war die «Parlamentarisierung» der Sozialdemokratie: Da die Teilnahme an Wahlen, die Agitation in den Volksvertretungen und die Berichterstattung hierüber nicht verboten waren, ging die Führung der Partei vom Parteivorstand auf die Reichstagsfraktion über.
    Von langer Dauer waren die Wirkungen, die die zwölfjährige Verfolgung auf die Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei ausübte. Bei ihnen entwickelte sich das Bewußtsein, in einem politischen Ghetto zu leben. Diese Erfahrung trug dazu bei, daß der Sozialismus zu einer Art von weltlicher Erlösungsreligion wurde. Von den Lehren von Marx und Engels Übernahmen die sozialdemokratischen Arbeiter meist nur, was ihnen half, der bedrückenden Gegenwart den Glauben an eine glückliche Zukunft entgegen zu setzen. Der sozialdemokratische «Volksmarxismus», der sich nach 1878 durchsetzte, war eine deterministische Weltanschauung, getragen von der Überzeugung, daß der historische Prozeß mit Naturnotwendigkeit auf die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus hinauslief. Um Klassengesellschaft, Klassenstaat und Klassenjustiz in einer klassenlosen Gesellschaft zu überwinden, mußte das Proletariat seinen Klassenkampf führen: Das war das Ziel, dem alles andere sich unterzuordnen hatte.
    Bismarck war sich Ende der siebziger Jahre längst darüber im klaren, daß Verbote und Unterdrückung nicht ausreichten, um die Sozialdemokratie wirksam zu bekämpfen. Er dachte an sozialpolitische Initiativen, mit denen die berechtigten Forderungen der Arbeiter erfüllt und vielleicht sogar die sozialistische Bewegung in vernünftige Bahnen gelenkt werden konnte. Auch hierfür bedurfte es eines Bruchs mit dem «Manchesterliberalismus» des «laisser faire». Zunächst aber galt es, die Finanzlage des Reiches durch Zölle und indirekte Steuern nachhaltig zu verbessern, und diesem Vorhaben waren die Mehrheitsverhältnisse seit den Wahlen vom Juli 1878 sehr viel günstiger als zuvor.
    Im Herbst 1878 schlossen sich auf Betreiben des Centralverbands Deutscher Industrieller die Schutzzöllner unter den Mitgliedern des Reichstags in einer interfraktionellen «Volkswirtschaftlichen Vereinigung» zusammen. Sie umfaßte 204 von insgesamt 397 Abgeordneten, darunter neben den Deutsch- und

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