Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Freikonservativen die meisten Mitglieder des Zentrums und 27 Nationalliberale. Das gemeinsame Ziel waren Zölle für Eisen und Textilwaren. Unter den Konservativen gab es mittlerweile auch Befürworter hoher Roggenzölle, was ganz im Sinne Bismarcks war. Im Bundesrat aber konnte sich der Reichskanzler damit im März 1879 nicht durchsetzen: Die Eisen- und Textilzölle gingen in der von ihm gewünschten Höhe durch, die Getreidezölle hingegen wurden deutlich herabgesetzt.
Um doch noch eine Mehrheit für die ursprüngliche Vorlage zu erreichen, gab es nur ein Mittel: die Verzahnung der Zollfrage mit der Finanzreform. Zu einem solchen Junktim neigte vor allem das Zentrum, das als föderalistische Partei die Matrikularbeiträge der Einzelstaaten erhalten und als konstitutionelle Partei das parlamentarische Budgetbewilligungsrecht gewahrt wissen wollte. Ein Antrag des bayerischen Zentrumsabgeordneten Georg von Franckenstein wies den Weg, auf dem sich Mehrheiten in Bundesrat und Reichstag finden ließen: Die Einnahmen aus den Zöllen und der Tabaksteuer waren entsprechend der «Franckensteinschen Klausel» auf jährlich 130 Millionen Mark zu begrenzen. Alles, was das Reich darüber hinaus einnahm, mußte es an die Bundesstaaten abführen. Da der Finanzbedarf des Reiches damit nicht zu befriedigen war, blieb es bei den Matrikularbeiträgen. Sie wurden aus Mitteln finanziert, die das Reich zuvor den Bundesstaaten überwiesen hatte. Diese behielten jedoch Überschüsse, so daß auch sie aus den Zöllen und der erhöhten Tabaksteuer Nutzen zogen. Dem Reichstag stand weiterhin das Recht zu, zusammen mit dem Bundesrat jährlich die Höhe der Matrikularbeiträge zu bestimmen; er hatte also sein Budgetrecht gewahrt.
Mit seiner Zustimmung zu diesem Vorschlag sicherte Bismarck sich zugleich die Annahme höherer Agrarzölle durch das Zentrum. Am 12. Juli 1879 nahm der Reichstag die Schutzzölle und die Erhöhung der Tabaksteuer mit den Stimmen der beiden konservativen Parteien, des Zentrums und von 16 Nationalliberalen an. Mit dieser Abstimmung war die zwölfjährige Zusammenarbeit zwischen Bismarck und den Nationalliberalen beendet. Der Reichskanzler hatte sich für eine neue Parteienkonstellation entschieden, in der es allenfalls für eine stark nach rechts gerückte Nationalliberale Partei, nicht jedoch für ihren bisherigen linken Flügel einen Platz gab. Die 16 nationalliberalen Schutzzöllner zogen noch am Tag der Abstimmung die Konsequenz aus der Tatsache, daß sie in der Minderheit geblieben waren: Sie verließen die Nationalliberale Partei. Die Abgeordneten Heinrich von Treitschke und Wilhelm Wehrenpfennig, die beiden Herausgeber der «Preußischen Jahrbücher», hatten den Trennungsstrich schon einen Tag vorher vollzogen.
Die Abkehr vom Wirtschaftsliberalismus markiert auch in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht eine tiefe Zäsur. Der ostelbische Rittergutsbesitz erhielt durch die Abschottung vom internationalen Wettbewerb die Möglichkeit, auf Kosten der Verbraucher ein privilegiertes Leben zu führen und weiterhin prägend auf Politik und Gesellschaft einzuwirken. Innerhalb der Industrie verstärkten die Schutzzölle das Gewicht der alten, auf längere Sicht weniger expansionsfähigen Branchen zu Lasten der neuen Wachstumszweige wie der elektrotechnischen, der chemischen und der Maschinenbauindustrie. Die Allianz zwischen «Rittergut» und «Hochofen» entwickelte sich zu einer konservativen Achse der deutschen Politik. Rittergutsbesitzer und Schwerindustrielle hatten sich erstmals zu einem Bündnis gegen Liberalismus, Demokratie und Sozialismus zusammengefunden. Es wurde in der Folgezeit zwar häufig durch innere Gegensätze in Frage gestellt, aber immer wieder erneuert, wenn gemeinsame Gegner eine gemeinsame Abwehr zweckmäßig erscheinen ließen.
Der Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll bildete das materielle Substrat der schon von Zeitgenossen so genannten «inneren Reichsgründung». Die wirtschaftspolitische Kehrtwende wurde begleitet von einem Wandel des deutschen Nationalismus. Die Gegner des Freihandels gaben die Parole vom «Schutz der nationalen Arbeit» aus und bedienten sich damit eines gleichzeitig nationalen und sozialen Arguments: Deutschland sollte im wohlverstandenen Eigeninteresse wertvolle inländische Arbeitsplätze vor billiger ausländischer Konkurrenz schützen. Wer sich vor der Reichsgründung von 1871 «national» nannte, war antifeudal und anti-partikularistisch und strebte
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