Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
England und Rußland sich nicht näher kamen.
Der Rückversicherungsvertrag war für Bismarck ein Notbehelf, geboren aus dem «cauchemar des coalitions», dem Alpdruck feindlicher Koalitionen, der seit der Reichsgründung auf ihm lastete. Was das Abkommen zu einer prekären Aushilfe machte, waren indes nicht nur die Interessen der anderen Großmächte. Auch Bismarcks Zollpolitik untergrub seine diplomatische Meisterleistung. Die deutschen Getreidezölle von 1879 wurden auf massives Drängen der ostelbischen Rittergutsbesitzer im März 1887 ein zweites Mal beträchtlich erhöht, was zu einem Handelskrieg mit Rußland führte. So paradox es klingt: Kaum etwas gefährdete das deutsche Bündnis mit der konservativen Großmacht Rußland so stark wie die Folgen der konservativen Wende der deutschen Außenhandelspolitik. Die Schutzzölle für Getreide waren aber nicht der einzige Bereich, in dem das Deutsche Reich Rußland wirtschaftlich herausforderte: Kurz nach dem Abschluß des Rückversicherungsvertrags ließ Bismarck als Reaktion auf russische Maßnahmen gegen ausländischen, darunter deutschen Immobilienbesitz in den Weichselgouvernements die Lombardierung russischer Wertpapiere verbieten, was zur Abstoßung der meisten «Russenwerte» führte. Das Zarenreich mußte sich andere Kapitalinvestoren suchen und fand sie – in Frankreich.
Beständig konnte man nur das deutsch-österreichische Verhältnis nennen. In Österreich-Ungarn war 1878/79, zur gleichen Zeit wie in Deutschland, eine Ära liberaler Reformen zu Ende gegangen; hier wie dort stand der Niedergang des Liberalismus in engem Zusammenhang mit der langanhaltenden europaweiten Wirtschaftskrise, die durch den Wiener Börsenkrach von 1873 ausgelöst worden war. 1879 kehrten die Tschechen in den Reichsrat zurück und beendeten damit die parlamentarische Abstinenz, die sie aus Protest gegen die Bevorrechtung von Deutschen und Ungarn seit 1861 praktiziert hatten. Zusammen mit Polen, Slowenen und Klerikalen aus dem deutschsprachigen Österreich verhalfen die Tschechen der Regierung des Ministerpräsidenten Eduard Graf von Taaffe zu einer konservativen Mehrheit, dem sogenannten «Eisernen Ring» der Jahre 1879 bis 1893. Der konservative Gleichklang der beiden mitteleuropäischen Großmächte verhalf dem deutschösterreichischen Zweibund zu einer festen innenpolitischen Grundlage. Das parlamentarisch regierte England war seiner wechselnden Mehrheiten wegen für Bismarck viel schwerer kalkulierbar. Auch das war ein Grund, weshalb Bemühungen um ein deutsch-britisches Bündnis nie über die Phase unverbindlicher Sondierungen hinausgelangten.[ 18 ]
Imperialismus (I): Von Disraeli zu Gladstone
Während der siebziger Jahre wechselten die Briten ihre Regierung nur einmal aus: Bei den Unterhauswahlen im Februar 1874 siegten die Tories über die Liberalen, wobei die ungleiche Größe der Wahlkreise die Konservativen begünstigte und die Liberalen, die insgesamt mehr Stimmen erhielten, benachteiligte. Benjamin Disraeli löste William Gladstone im Amt des Premierministers ab. Schon in den Jahren zuvor hatte der Führer der Konservativen deutlich gemacht, welche drei Ziele für ihn Vorrang vor allen anderen hatten: die Verteidigung der britischen Institutionen, wobei er besonders an die Krone, das Oberhaus und die Church of England dachte, die Aufrechterhaltung des britischen Empire und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der unteren Bevölkerungsschichten. In einer Rede, die er am 24. Juni 1872 im Londoner Kristallpalast hielt, warf er den Liberalen vor, sie hätten während ihrer Regierungszeit in allen drei Bereichen versagt, am meisten aber bei der zweiten Aufgabe. Wenn der Versuch einer «disintegration of the Empire» gescheitert sei, dann nur wegen der Sympathien, die die Kolonien gegenüber dem Mutterland empfänden. Kein Minister werde seinen Pflichten gerecht, der irgendeine Gelegenheit versäume, das «Kolonialreich soweit wie möglich neu aufzubauen und jene fernen Sympathien zu erwidern, die zu einer Quelle unschätzbarer Stärke und unschätzbaren Glücks für dieses Land» (the source of uncalculable strength and happiness to this land) werden könnten.
Das Empire zu festigen war für Disraeli das höchste nationale Interesse seines Landes: Großbritannien hatte unter liberaler Führung tatenlos zugesehen, als durch den deutsch-französischen Krieg das bisherige Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent zerstört wurde. England konnte dieses Ereignis
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