Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Größe Englands und seines Empire in Verbindung mit patriotischen Appellen an das Volk und vor allem an die Arbeiterschaft. Noch als Oppositionsführer nannte er am 3. April 1872 in einer Rede in Manchester Großbritannien «the Imperial country», auf das der «ungebrochene Geist des Volkes» (the unbroken spirit of her people) stolz sei. In der schon zitierten Rede im Londoner Kristallpalast vom 24. Juni 1872 gab er seiner Meinung Ausdruck, «daß das Volk von England und besonders die arbeitenden Klassen Englands stolz darauf sind, daß sie einem großen Land angehören, und diese Größe aufrechterhalten wollen, daß sie stolz darauf sind, einem imperialen Land anzugehören (that they are proud of belonging to an Imperial country), daß sie entschlossen sind, wenn sie es können, das Empire aufrechtzuerhalten, und daß sie alles in allem glauben, daß die Größe und das Empire Englands den alten Einrichtungen des Landes zuzuschreiben sind».
Disraeli hatte schon lange, bevor er Premierminister wurde, Interesse an der sozialen Frage gezeigt und 1843 in seinem Roman «Sybil, or, The Two Nations» das Elend der arbeitenden Klassen beschrieben. Was seine Regierung zugunsten der Unterschichten tat, war vom Geist der paternalistischen Fürsorge geprägt und bewirkte einige praktische Verbesserungen – so vor allem mehrere Gesetze aus den Jahren 1875 bis 1878 wie das über Handwerkerwohnungen, mit dem der «Verslumung» der Städte Einhalt geboten werden sollte, die Fabrikgesetze, die Frauen und Kindern einen gewissen Schutz vor Ausbeutung durch die Arbeitgeber gewährten, die Gesetze zur Förderung der Volksgesundheit und der privaten Hilfskassen, der «friendly societies», sowie zum Schutz von Kleinpächtern. Mit am wichtigsten war die Gewährung des Streikrechts durch den Conspiracy and Protection of Property Act von 1875. Bei dem Versuch, gerade die Arbeiter zu einer Stütze des Empire zu machen, ging Disraeli von der Annahme aus, daß Stolz auf das eigene Land über manche materiellen Entbehrungen hinweghelfen könne. Auch deswegen stellte er die Tories als die «nationale Partei» und die Liberalen als Zerstörer des Empire dar.
1878 kam durch ein populäres, auf Disraelis Außenpolitik gemünztes Lied das Wort «jingoism» in Umlauf. «We don’t want to fight, yet by Jingo, if we do, we’ve got the ships, we’ve got the men, and got the money, too»: So lauteten die vielzitierten Zeilen. Jingoismus bedeutete etwa dasselbe wie Chauvinismus im Frankreich der Dritten Republik seit den späten achtziger Jahren und der neue, «rechte» Nationalismus in Deutschland nach der innenpolitischen Wende von 1878/79. Gemeint war eine radikale, militärisch auftrumpfende, gegenüber anderen Nationen herablassende Abart von Vaterlandsliebe. In der Verbindung mit dem Kult des Empire bildete der Jingoismus das sozialpsychologische Unterfutter dessen, was Zeitgenossen «Imperialismus» zu nennen begannen.
Der innenpolitische Nutzen von Jingoismus und Imperialismus lag darin, daß sie zeitweilig von ungelösten inneren Problemen ablenken konnten – obenan der irischen Frage, die Disraeli nach besten Kräften zu ignorieren versuchte, obwohl seit 1874 54 Abgeordnete der neugegründeten irischen Nationalpartei im Londoner Unterhaus saßen, die «Home Rule» und damit letztlich die Aufkündigung der Union mit England forderten. Imperialismus und Jingoismus mochten vielen Briten das vermitteln, was der amerikanische Psychologe Daniel Katz in einer Analyse des Nationalismus «seelisches Sondereinkommen» (enhanced psychic income) genannt hat. Doch diesen Dienst konnte nur eine erfolgreiche imperialistische Politik leisten. Die Mißerfolge und Niederlagen der Regierung Disraeli in Afghanistan und Südafrika, für die Namen wie Kabul und Isandhlwana standen, bewirkten einen raschen Stimmungsumschwung. Er trug wesentlich dazu bei, daß die Liberalen bei den Unterhauswahlen vom März und April 1880 eine ähnlich große Sitzmehrheit erobern konnten wie sechs Jahre zuvor die Tories. Die Ära Disraeli war damit zu Ende. Ein Jahr später, am 19. April 1881, starb der bedeutendste konservative Premier, den England im 19. Jahrhundert gehabt hat, im Alter von 76 Jahren in London.
William Gladstone, der im April 1880, damals 70 Jahre alt, erneut das Amt des Premierministers übernahm, hatte während des Wahlkampfes nicht nur die Kriege in Afghanistan und Südafrika verurteilt, sondern auch den Zulus für den Fall eines liberalen
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