Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
persönliche und zugleich nationale Prestigegewinn, von dem er sich eine Stabilisierung seines Regimes erhoffte.
Nach dem Untergang des Zweiten Kaiserreiches im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 gewann das Streben nach nationalem Prestige eine neue Bedeutung: Eine erfolgreiche Kolonialpolitik versprach den Schmerz über die Niederlage und den Verlust von Elsaß-Lothringen zu lindern. Als Schwerpunkt der Expansion bot sich zunächst Nordafrika an. Algerien, mittlerweile die Kornkammer Frankreichs, war zwischen 1830 und 1874 erobert, wenn auch noch längst nicht befriedet worden. Die drei Departements, aus denen Algerien seit 1848 bestand, wurden von Paris aus regiert. Freilich hatten nur französische Bürger das Wahlrecht, zu denen seit 1870 auch die 35.000 in Algerien lebenden Juden gehörten, nicht aber die Muslime, also das Gros der Bevölkerung. Die Einteilung Algeriens in drei Departements änderte auch nichts daran, daß der Süden des Gebiets, der in der nördlichen Sahara lag, einem Militärregime unterstellt blieb.
Im Mai 1881, nach dem Übergang zur «opportunistischen Republik», schloß die erste Regierung des gemäßigten Republikaners Jules Ferry mit dem Bey von Tunis den Vertrag von Bardo, durch den Tunesien ein französisches Protektorat wurde. Großbritannien und Deutschland hatten Paris schon 1878 auf dem Berliner Kongreß freie Hand in Tunis gelassen. Da dieser Teil Nordafrikas aber seit langem das Ziel italienischer Siedler war, reagierte die Öffentlichkeit der Apenninenhalbinsel empört. Der deutsch-italienisch-österreichische Dreibund von 1882 und die Mittelmeerallianz von 1887 waren Roms Antwort auf Frankreichs Vordringen in einer Region, die Italien als seine Interessensphäre betrachtete. Auch in Frankreich gab es lebhaften Widerspruch. Er kam vor allem von der Linken, wo man gegenüber Ferrys Kolonialpolitik schon deshalb mißtrauisch war, weil diese die Unterstützung Bismarcks genoß, dessen Beweggründe über jeden Zweifel erhaben waren: Der deutsche Reichskanzler wollte Frankreich von Revanchebestrebungen wegen des Verlustes von Elsaß-Lothringen abhalten. Der Vertrag mit dem Bey wurde zwar ratifiziert, Ferry aber, kurz nachdem er zusätzliche Truppen zur Bekämpfung eines Aufstands nach Tunesien geschickt hatte, durch ein Mißtrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt.
1883 wieder an die Spitze der Regierung gelangt, nahm Ferry den Faden seiner Kolonialpolitik dort auf, wo er ihn zwei Jahre zuvor hatte fallen lassen müssen. Mit der Rückendeckung durch Bismarck begann der Ministerpräsident mit der Eroberung von Madagaskar, an dessen Ostküste Frankreich seit dem 17. Jahrhundert einen Stützpunkt, die Insel Sainte-Marie, zur Sicherung des Seewegs nach Indien besaß. Die Besitznahme war erst 1902 abgeschlossen – sechs Jahre nachdem Frankreich Madagaskar als Kolonie annektiert hatte. Gleichzeitig förderte Ferry die Ausdehnung des verstreuten älteren französischen Besitzes an der afrikanischen Westküste ins Landesinnere hinein bis zum rechten Ufer des Kongo, wo seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts französische Missionare tätig waren. Auf der Berliner Kongokonferenz von 1884/85 konnte Paris durchsetzen, daß das Gebiet, das Pierre Savorgnan de Brazza, ein aus Italien stammender naturalisierter Franzose, in den Jahren zuvor erkundet und durch Protektoratsverträge für Frankreich in Anspruch genommen hatte, als französischer Besitz anerkannt wurde.
Im gleichen Jahr 1883, in dem die Franzosen mit der Eroberung Madagaskars begannen, mußten sie sich in Tonkin, einem Teil Annams, eines Aufstands der Vietnamesen erwehren: Die Strafaktion, mit der Paris die Erhebung beantwortete, rief den nominellen Oberherrscher Annams, den Kaiser von China, auf den Plan. Der fast zweijährige Krieg mit China verlief zwar alles in allem erfolgreich für die Franzosen. Eine öffentliche Niederlage bei Lang-Son aber löste in Frankreich eine Kampagne gegen Ferry aus, an deren Spitze sich, wie schon 1881, nach Beginn eines Aufstandes gegen die französische Fremdherrschaft in Tunesien, Georges Clemenceau, der Führer der radikalen bürgerlichen Linken, stellte. Am 30. März 1885, einen Monat nach der für Frankreich so erfolgreichen Berliner Kongokonferenz, wurde Ferry gestürzt. Als geschäftsführender Ministerpräsident konnte er jedoch noch einen Vertrag mit China schließen, in dem dieses auf seine Oberhoheit über Annam verzichtete. Fortan bildete dieser Teil Indochinas ein
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