Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Krone erfolgte in Afrika allerdings sehr viel schneller als in Indien.
Ende der achtziger Jahre war Frankreich das einzige Land, das im «scramble for Africa» Großbritannien gefährlich nahe gekommen war. Reibungen gab es im Nigergebiet, vor allem aber im Hinblick auf den Sudan. In London nahm man das Vordringen der Franzosen in West- und Äquatorialafrika als das, was es auch war: der Versuch, eine möglichst breite Landmasse zwischen Atlantik und Rotem Meer unter französische Kontrolle zu bringen, von der Sahara aus also in den östlichen Sudan und zum Nil vorzustoßen und so den Verlust des Einflusses auf Ägypten auszugleichen. 1883 erreichten die Spannungen zwischen Paris und London einen Grad, der selbst einen kriegerischen Zusammenstoß möglich erscheinen ließ. In dieser Situation trat ein neuer Konkurrent Großbritanniens auf den Plan: das Deutsche Reich.
Bismarck hatte bis dahin eine deutsche Kolonialpolitik, wie sie der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein und die hinter ihm stehenden Wirtschaftskreise, obenan Schwerindustrie, Großbanken und Kaufleute der Hansestädte Hamburg und Bremen, forderten, abgelehnt. Im April 1884 aber stellte er ein großes Gebiet in Südwestafrika an der Bucht von Angra Pequena, das der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz erworben hatte, unter den Schutz des Reiches. Im Juli wurden Togo und Kamerun durch den deutschen Generalkonsul in Tunis, Gustav Nachtigal, im Auftrag des Reichskanzlers zu deutschen Protektoraten erklärt. Im Februar 1885 folgte die Ausstellung des Schutzbriefes für Deutsch-Ostafrika, ein Gebiet auf dem Territorium des heutigen Tansania, das die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft im Jahr zuvor durch Schutzverträge mit einheimischen Fürsten erworben hatte. Ein Vierteljahr später proklamierte das Deutsche Reich seine Oberhoheit über Nord-Neuguinea, das jetzt den Namen Kaiser-Wilhelm-Land erhielt, und die vorgelagerte Inselgruppe, den Bismarck-Archipel.
Über die Gründe, die Bismarcks Übergang zu einer aktiven Kolonialpolitik zugrunde lagen, ist viel gestritten worden. Einer Lesart zufolge wollte er durch Ablenkung innerer Spannungen nach außen das politische und gesellschaftliche System des Kaiserreichs stabilisieren und durch Öffnung neuer Absatzmärkte den häufigen Konjunktureinbrüchen in der Zeit der «Großen Depression» seit 1873 entgegenwirken. Gegen diese «sozialimperialistische» und «antizyklische» Deutung gibt es einen stichhaltigen Einwand: Wenn der Kanzler eine derart langfristig angelegte Strategie verfolgte, ist schwer zu begreifen, warum die Zeit der kolonialen Erwerbungen eine kurze Episode seiner Regierungszeit blieb. Es spricht also vieles dafür, die Gründe des kolonialen Zwischenspiels in anderen Bereichen zu suchen.
Daß Bismarck Konflikte nach außen ablenken wollte, ist nicht strittig. Aber es handelte sich dabei wohl weniger um innergesellschaftliche als um außenpolitische Konflikte. Der Kanzler unterstützte die französische Kolonialpolitik unter Jules Ferry, um einen Keil zwischen Großbritannien und Frankreich zu treiben und so die Gefahr eines Zusammengehens beider Mächte gegen Deutschland abzuwenden. Als er afrikanische Gebiete der Schutzherrschaft des Deutschen Reiches unterstellte, ging er selbst das Risiko deutsch-britischer Spannungen ein. Doch das war ein vergleichsweise geringes Risiko: Die Regierung Gladstone reagierte gelassen auf den Aufstieg Deutschlands zur Kolonialmacht; das nachfolgende Kabinett von Lord Salisbury war gerade wegen der Kolonialkonflikte mit Frankreich an einem guten Verhältnis zu Deutschland interessiert. Ausdruck der Annäherung zwischen London und Berlin war 1887 der Abschluß des britisch-italienisch-österreichischen Mittelmeerdreibunds mit Deutschland als stillem Partner: eine Wendung, zu der es ohne die kolonialpolitischen Gegensätze zwischen England und Frankreich wohl kaum gekommen wäre.
1884/85 scheint eine gewisse Spannung mit Großbritannien durchaus in Bismarcks Sinn gewesen zu sein. Ihm lag daran, den anglophilen, mit einer Tochter der Queen verheirateten Kronprinzen von einer einseitigen Ausrichtung an England abzuhalten. Daß Kronprinz Friedrich gute Beziehungen zu den «Sezessionisten», den 1880 aus der Nationalliberalen Partei ausgetretenen Politikern der Liberalen Vereinigung unterhielt, die sich 1884 mit der Fortschrittspartei in der Deutschen Freisinnigen Partei zusammengeschlossen hatten, war ein weiterer Grund, dem Thronwechsel mit Sorge
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