Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
hatte Frankreich die «République des ducs» durch die «République opportuniste» ersetzt, also einen Ruck nach links getan. Unter der Führung der bürgerlichen Mitte erweiterte Frankreich nicht nur seinen Kolonialbesitz zu einem Kolonialreich, es wurde auch erst in einem substantiellen Sinn zu dem, was es formell seit dem 4. September 1870 war: einer Republik. Die Deputiertenkammer vollzog einen Akt von hoher symbolischer Bedeutung, als sie 1880, zehn Jahre nach der Ausrufung der Dritten Republik, ihren Sitz von Versailles nach Paris verlegte. Im gleichen Jahr proklamierte das Parlament den 14. Juli, den Tag des Bastillesturmes von 1789, zum Nationalfeiertag und die Marseillaise, das Kampflied eines republikanischen Bataillons aus Marseille vom Juli 1792, zur Nationalhymne. Außerdem beschloß die Deputiertenkammer eine allgemeine Amnestie für die überlebenden Pariser Kommunarden. Die meisten Verbannten kehrten daraufhin in ihre Heimat zurück; viele wirkten in der Folgezeit am Aufbau einer sozialistischen Bewegung mit.
Unter den rasch wechselnden Regierungen der «Opportunisten» (die sich gelegentlich selbst so nannten) wurde in der ersten Hälfte der achtziger Jahre das Presserecht liberalisiert, die Justiz reformiert, die Ehescheidung und das Recht der Wahl der Bürgermeister in den Munizipalitäten eingeführt (bislang waren die «maires» von den Präfekten ernannt worden) sowie ein Gesetz über Vereinsbildung verabschiedet, das die Gründung von Gewerkschaften offiziell erlaubte. Die meisten Reformen fielen in das Jahr 1884, die Zeit des zweiten Kabinetts Ferry. Viele der Neuerungen hatte Gambetta angestoßen, der selbst nur wenige Monate, von November 1881 bis Januar 1882, Ministerpräsident war. Das galt auch für die 1884 beschlossene Reform der Verfassungsgesetze von 1875. Ein Ergänzungsartikel legte fest, daß kein Nachkomme einer früher herrschenden Dynastie in das Amt des Präsidenten der Republik gewählt werden konnte: eine Bestimmung, die sich gegen den orleanistischen Prätendenten, den Grafen von Paris, richtete, auf dessen Kandidatur sich die Monarchisten nach dem Tod des bourbonischen Thronbewerbers, des Grafen von Chambord, im Jahre 1883 geeinigt hatten. Die wichtigste Änderung betraf den Senat: Er verlor seine 75 von der Deputiertenkammer auf Lebenszeit gewählten, unabsetzbaren Mitglieder und bestand fortan nur noch aus Senatoren, die auf neun Jahre von den Departements und Kolonien gewählt wurden.
Den Schwerpunkt der inneren Reformen bildete jedoch die Schulpolitik: ein traditioneller Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen links und rechts, zwischen Staat und Kirche und seit 1879 das Gebiet, auf dem in Frankreich der «Kulturkampf» am intensivsten ausgefochten wurde. Der Politiker, der hier die nachhaltigsten Wirkungen erzielte, war Jules Ferry, Bismarcks «Partner» in der Kolonialpolitik, in den Jahren 1880/81 und 1883 bis 1885 Ministerpräsident und zwischen 1879 und 1885 immer wieder Erziehungsminister. Die «Opportunisten» waren fortschrittsgläubige Anhänger der positivistischen Geschichtsphilosophie Auguste Comtes und schon darum Laizisten, also antiklerikal. «Le cléricalisme, voilà l’ennemi» (Der Klerikalismus, das ist der Feind), hatte Gambetta 1877 ausgerufen. Ferry selbst, der «Vater» des Verbots des Jesuitenordens, sprach von der Aufgabe, die Menschheit ohne Gott und König zu organisieren (organiser l’humanité sans dieu et sans roi).
Aus dem Laizismus ergaben sich allgemeine Maximen und praktische Nutzanwendungen: Religion war Privatsache und hatte an staatlichen Schulen nichts zu suchen, auch nicht in der Form von Religionsunterricht; umgekehrt durfte der Staat sich nicht in religiöse Fragen einmischen. Die religiösen Überzeugungen von Kindern und Elternhäusern sollten geschont, die Kirche am schulfreien Donnerstag die Möglichkeit haben, in ihren Gebäuden und durch ihre Priester Religionsunterricht zu erteilen. Um ein solches laizistisches Erziehungssystem durchzusetzen, mußten zunächst die allgemeine, unentgeltliche, weltliche Volksschule in ganz Frankreich eingeführt, neue Schulen gebaut und die Lehrerbildung auf eine neue Grundlage gestellt werden. Das geschah durch Ferrys Schulgesetze aus den Jahren 1879 bis 1881. Aus dem Conseil Supérieur de l’Enseignement, der Aufsichtsbehörde, wurden die geistlichen Vertreter ausgeschlossen und in jedem Departement écoles normales für die getrennte Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer
Weitere Kostenlose Bücher