Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
Deutschland zu erkennen gegeben hatte, zum Kriegsminister ernannt. Seine Aufnahme in das Kabinett erwies sich als fatale Fehlentscheidung: «Le Général Revanche», wie er alsbald genannt wurde, löste erst eine ernste internationale und dann eine nicht minder ernste, in vielem der «Mac-Mahon-Krise» nach 1875 vergleichbare Staatskrise aus.
    Bald nach seiner Ernennung tat Boulanger etwas, was mit den Pflichten eines Ministers nicht vereinbar war, ihn aber in der Arbeiterschaft sehr populär machte: Wie vom Kabinett beschlossen, schickte er Truppen zur Niederschlagung eines Ausstands in die Kohlegruben von Decazeville in Südwestfrankreich, empfahl seinen Soldaten aber, sich auf die Seite der streikenden Arbeiter zu stellen. (Der Streik hatte auch Folgen für die sozialistische Bewegung: Da die Radikalen den harten Kurs der Regierung unterstützten, trennten sich die neun sozialistischen Abgeordneten der Deputiertenkammer von der Fraktion der Radikalen, der sie sich zuvor angeschlossen hatten.) Bei der Parade zum Nationalfeiertag ließ sich Boulanger in einer Weise feiern, die der Präsident der Republik, Jules Grévy, als Herausforderung verstehen mußte. Den stärksten Zuspruch aber erhielt der Kriegsminister von der Patriotenliga Paul Déroulèdes. Zu den rührigsten Vertretern von Boulangers Ruhm gehörten der ehemalige Kommunarde Henri de Rochefort, der radikale Deputierte Alfred Naquet und der junge Schriftsteller Maurice Barrès, der um die Jahrhundertwende zu einem der führenden Ideologen des radikalen französischen Nationalismus aufsteigen sollte. Eine neue Zeitschrift, «La Revanche», erschien im Oktober 1886 mit einem Bild Boulangers auf der Titelseite.
    Im Dezember 1886 stürzte die Regierung Freycinet über Finanzfragen. Boulanger aber blieb auch im nachfolgenden Kabinett von René Coblet Kriegsminister. In die Zeit dieser Regierung fällt die schwerste Krise der deutsch-französischen Beziehungen seit der «Krieg-in-Sicht-Krise» von 1875. In seiner Reichstagsrede vom 11. Januar 1887 sprach Bismarck nachdrücklich von der Gefahr eines französischen Angriffs auf Deutschland, um die Abgeordneten von der Notwendigkeit eines neuen Septennats zu überzeugen. Anfang Februar fanden Manöver mit 72.000 Reservisten in Elsaß-Lothringen statt. Im gleichzeitigen Reichstagswahlkampf war die vermeintliche Kriegsgefahr das wichtigste Thema. Entsprechend militant und wehrfreudig präsentierte sich der neue, «rechte» Nationalismus. In Elsaß-Lothringen hatten die Protestler bei den «Kartellwahlen» das letzte Mal großen Zulauf. Nachdem er die Wahl gewonnen hatte, setzte der Reichskanzler ein Zeichen der Entspannung: Er ordnete die Freilassung eines wegen Spionage (rechtswidrig) verhafteten französischen Zollbeamten namens Guillaume Schnaebelé an. In Paris stürzte kurz darauf das Kabinett Coblet – formell wegen einer Budgetfrage, tatsächlich vor allem, weil die gemäßigten Politiker sich Boulangers entledigen wollten.
    Dem neuen Kabinett Maurice Rouvier gehörte Boulanger nicht mehr an. Der populäre General wurde zum Kommandeur des 13. Armeekorps in Clermont-Ferrand ernannt. Seine Anhänger versuchten am 8. Juli 1887 durch eine große Demonstration am Bahnhof die Abreise des ehemaligen Kriegsministers zu verhindern, was ihnen aber nur für die Dauer einiger Stunden gelang. Clemenceau und seine engeren politischen Freunde empfanden das Verhalten Boulangers als so provozierend, daß sie sich nunmehr offiziell von ihm abwandten.
    Wenig später wurde Frankreich durch einen Skandal um den Schwiegersohn des Präsidenten der Republik, den Unterstaatssekretär und Abgeordneten der Deputiertenkammer Daniel Wilson, erschüttert. Wilson hatte seine Position dazu benutzt, Ordensverleihungen gegen Geld vorzunehmen. Trotz nachgewiesener Korruption wurde er vor Gericht freigesprochen. Obwohl Präsident Grévy von den Geschäften seines Schwiegersohnes vermutlich nichts gewußt hatte, mußte er Anfang Dezember 1887 zurücktreten. Zu seinem Nachfolger wurde Sadi Carnot, der Enkel von Lazare Carnot, dem Schöpfer des französischen Revolutionsheeres, gewählt.
    Der Wilson-Skandal führte zu verbreiteter Unzufriedenheit mit dem parlamentarischen System in Kleinbürgertum und Arbeiterschaft – einer Stimmung, deren sich Boulanger und die ihn stützenden «Patrioten» zu bedienen wußten. Im März 1888 wegen seiner politischen Umtriebe aus der Armee entlassen, stellte sich der fünfzigjährige General im Ruhestand sogleich

Weitere Kostenlose Bücher