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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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geschaffen. Die Ausbildung der dort lehrenden Lehrkräfte oblag der école normale supérieure in St. Cloud. Deren Absolventen, meist «boursiers», das heißt Stipendiaten, erhielten aber auch Zugang zum Universitätsstudium. Die katholischen Orden wurden schrittweise aus dem Lehrpersonal der öffentlichen Schulen entfernt: An den Knabenschulen mußte auf Grund eines Rahmengesetzes vom Oktober 1886 die Laisierung des Lehrkörpers bis 1891 abgeschlossen sein; an den Mädchenschulen, wo viele Nonnen unterrichteten, dauerte dieser Vorgang länger.
    Von einer vollen Durchsetzung der weltlichen Schule konnte aber um 1890 noch längst nicht die Rede sein. Privatschulen waren zugelassen; neunzig von hundert dieser Schulen waren katholisch und wurden von Priestern geleitet; aber auch hier durften weder Jesuiten noch Angehörige anderer «nichtautorisierter» Orden unterrichten. Da die Privatschulen keine öffentlichen Mittel erhielten, erhoben sie Schulgeld, was zu einem «Klasseneffekt» führte: Wohlhabende Eltern konnten es sich leisten, ihre Kinder auf private Schulen zu schicken (oder auch zuhause zu unterrichten); die Kinder weniger gutsituierter Familien waren auf die öffentlichen Schulen angewiesen. Die Spaltung des Schulsystems, das die Spaltung der Gesellschaft widerspiegelte und verstärkte, dauerte bis zum Ende der Dritten Republik, wenn sich auch die Gewichte immer mehr zu den öffentlichen Schulen hin verschoben: Um 1940 fielen 85 Prozent der Volksschulen und immerhin 60 Prozent der Gymnasien in diese Kategorie.
    Die Bedeutung der Schulreformen Ferrys für die Festigung der Dritten Republik kann gar nicht überschätzt werden. Sie halfen ein republikanisches Bewußtsein zu schaffen, das es in dieser Breite zuvor in Frankreich nicht gegeben hatte. Es erfaßte zwar nicht alle gesellschaftlichen Schichten und alle politischen Lager, aber doch alle Teile des Landes. Um 1870 war Französisch noch die Sprache einer Minderheit der Franzosen; im Südwesten wurden unterschiedliche Arten von Patois, vor allem das provenzalische Occitan, in der Bretagne noch vielfach bretonisch, um Nizza und vor allem in Korsika italienische Dialekte gesprochen. Durch die Ausdehnung des öffentlichen Volksschulwesens, aber auch durch den Straßenbau drang das Hochfranzösische immer mehr in die entlegensten Provinzen vor. Die «République opportuniste» förderte damit einen Prozeß, der, um den Titel eines Buches des amerikanischen Historikers Eugen Weber aus dem Jahr 1976 zu zitieren, «Peasants into Frenchmen», Bauern in Franzosen, verwandelte. Wenn man schon im Hinblick auf das Zweite Kaiserreich von einer Modernisierung des immer noch überwiegend ländlichen Frankreich sprechen kann, so gilt das erst recht für die Dritte Republik in der Zeit zwischen 1870 und 1914.
    Im Oktober 1886 wurde die Deputiertenkammer neu gewählt. Der erste Wahlgang bedeutete für die Republikaner einen schweren Rückschlag: Sie erhielten lediglich 127 Sitze, während die vereinten Monarchisten, die sich mit den Bonapartisten auf gemeinsame Kandidatenlisten verständigt hatten, auf 176 Mandate kamen. Der Rechtsruck ging offenkundig zu einem erheblichen Teil auf bäuerliche und bürgerliche Wähler zurück, die so ihren Protest gegen die «linke» Schulpolitik Ferrys ausdrücken wollten. Bei den Bauern spielte mit Sicherheit auch Unzufriedenheit mit dem anhaltenden Rückgang der Agrarpreise eine große Rolle. Schließlich dürfte die Schwächung der Linken einen Grund auch in der nationalistischen Propaganda der «Ligue des Patriotes», einer 1882 von dem Schriftsteller Paul Déroulède gegründeten Kampforganisation, gehabt haben.
    Im zweiten Wahlgang wendete sich das Blatt dank prompter Wahlabsprachen mit den Radikalen im Zeichen der «défense republicaine»: Die Republikaner verfügten nun über insgesamt 383, die Monarchisten über 201 Sitze, was jedoch eine Verdoppelung ihrer Mandatsstärke gegenüber 1881 bedeutete. Ministerpräsident wurde am 7. Januar 1886 zum dritten Mal der gemäßigte Charles de Saulces Freycinet. In sein Kabinett traten erstmals moderate Politiker aus der radikalen Gruppe um Georges Clemenceau an, der in den Jahren zuvor wie kein anderer Parlamentarier republikanische Regierungen, oft nach kurzer Amtszeit, zu Fall gebracht hatte. Auf Empfehlung Clemenceaus wurde der General Georges Boulanger, der sich während seines Dienstes in Tunesien als Kritiker der Kolonialpolitik und Befürworter eines Revanchekrieges gegen

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