Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
hatte, ließ sich nicht mehr vertreiben. Das Zusammenwirken der drei konservativen Mächte Rußland, Deutschland und Österreich-Ungarn war schon in den achtziger Jahren keine feste Größe der europäischen Politik mehr gewesen; nun gehörte es endgültig der Vergangenheit an. Rußland hatte sich durch das Bündnis mit Frankreich zwar nicht westlichen Vorstellungen von Demokratie geöffnet. Es war aber absehbar, daß eine andere westliche «Errungenschaft» die russische Politik künftig mehr noch als bisher prägen würde: der moderne, an die Massen appellierende und Massen mobilisierende Nationalismus.
Am 1. November 1894 starb Alexander III. an einem Nierenleiden. Sein Sohn Nikolaus II., damals 26 Jahre alt, war wie sein Vater von Pobedonoszew erzogen worden, der seinen beherrschenden Einfluß auf die russische Politik behielt. Die Fortsetzung des autokratischen Kurses bedeutete Unterdrückung jedweder Art von Opposition, Schürung von Judenfeindschaft bis hin zur Anstachelung von Pogromen und weitere Russifizierung der nichtrussischen Reichsteile. Was den zuletzt genannten Bereich angeht, spitzten sich die Konflikte am schärfsten im Großfürstentum Finnland zu, dem Zar Alexander I. 1809 nach dem russischen Sieg über Schweden feierlich die Achtung seiner Autonomie versprochen hatte.
Im Februar 1899 hob Nikolaus II. in einem Patent das Recht Finnlands auf eine eigene Gesetzgebung zwar nicht völlig auf, bestand aber auf dem absoluten Vorrang des Reichsrechts. Der wichtigste Zweck des Patents war die Beseitigung der Sonderstellung der finnischen Truppen in der russischen Armee im Zuge des geplanten neuen Wehrpflichtgesetzes (die allgemeine Wehrpflicht war in Rußland 1874 eingeführt worden). Eine halbe Million Finnen unterschrieben eine Protestpetition; der Zar weigerte sich jedoch, die fünfhundertköpfige Delegation zu empfangen, die ihm die Entschließung samt den Unterschriften überreichen wollte. Im Jahr 1900 erging eine neue, restriktive Sprachenverordnung, die das Russische zur Amtssprache in den Behörden machte und zur Entlassung vieler finnischer Beamten führte; 1901 erfolgte der Oktroi des neuen Wehrgesetzes. Die Finnen gingen in ihrer Mehrheit zu passivem Widerstand über; eine Minderheit aber entschied sich in der Folgezeit für den gewaltsamen Kampf gegen die Fremdherrschaft. Im Sommer 1904 wurde der allgemein verhaßte russische Generalgouverneur Bobrikow von einem finnischen Beamten, der anschließend Selbstmord verübte, erschossen. An der Politik des Zarenreiches änderte sich durch den Anschlag nichts, die finnische Gesellschaft aber spaltete sich in zwei Lager: die Anhänger einer kompromißbereiten und die Befürworter einer unnachgiebigen Linie gegenüber Rußland.
Finnland war für das Zarenregime ein regionales Problem, die sozialistische Bewegung hingegen, die sich seit den achtziger Jahren zu organisieren begann, ein gesamtrussisches. Die Narodnaja Wolja war 1881 zerschlagen worden, aber zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits manche ehemalige Narodniki von der Methode des individuellen Terrors abgekehrt und den Theorien von Karl Marx zugewandt. Zu denen, die diesen Weg gingen, gehörte Vera Sassulitsch, die 1878 ein Attentat auf den Petersburger Polizeipräsidenten Trepow verübt hatte, weil dieser einen verhafteten Studenten wegen der Verweigerung des Grußes hatte auspeitschen lassen. Trepow wurde bei dem Anschlag verletzt, die Attentäterin aber in einem spektakulären Geschworenenprozeß freigesprochen. In die Schweiz emigriert, gründete sie 1883 in Genf zusammen mit dem besten russischen Kenner der Marxschen Theorie, Georgi Plechanow, und dem jüdischen Intellektuellen Paul Axelrod die Gruppe «Befreiung der Arbeit». Ihr Ziel war es, die Gedanken von Marx in Rußland zu verbreiten – was vom Exil aus nur durch eingeschmuggelte Schriften geschehen konnte und geschah.
Vera Sassulitsch hatte sich von Marx 1881 in der Auffassung bestätigen lassen, daß unter bestimmten Bedingungen das russische Gemeineigentum im «mir» unter günstigen Voraussetzungen zum «Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands» werden könne. (Im Jahr darauf gingen Marx und Engels noch weiter und stellten in der Vorrede zur russischen Ausgabe des «Kommunistischen Manifests» die These auf: «Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer
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