Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
Widersprüche «von der Urgemeinschaft bis zur modernen Großindustrie und Hochfinanz» durch einen Despotismus ohnegleichen gewaltsam zusammengehalten – «einen Despotismus, der immer unerträglicher wird für eine Jugend, die in sich die nationale Intelligenz und Würde vereint – wenn dort das 1789 einmal begonnen hat, wird das 1793 nicht auf sich warten lassen».
    Engels ließ sich nicht darüber aus, wie lange das russische 1793 dauern würde. Worauf es ihm ankam, war, daß das rückständige Rußland den Mangel des entwickelten Westens, das Fehlen einer revolutionären Situation, ausglich und eben dadurch die Revolution im internationalen Maßstab auslöste. Das war nichts Geringeres als die Wiederaufnahme des Gedankens einer «translatio revolutionis», die Marx 1843/44 in der «Einleitung» zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie im Hinblick auf das damals so rückständige Deutschland entwickelt hatte: Dort mußte, wenn Frankreich den Anstoß durch eine neue Revolution gab, die Entscheidungsschlacht im revolutionären Klassenkampf, die radikalste aller Revolutionen, stattfinden. Engels ließ wie vier Jahrzehnte zuvor Marx die Revolution gedanklich von West nach Ost wandern – dahin, wo die Chance am größten war, daß radikale Rückständigkeit in eine radikale Umwälzung umschlug. Er war mit der Situation im Zarenreich gut genug vertraut, um zu wissen, daß seine Spekulationen nicht weit entfernt waren von dem, was in Kreisen russischer Revolutionäre gedacht und geplant wurde.
    Lenin, der radikalste aller russischen Revolutionäre, war davon überzeugt, daß die Arbeiter aus eigener Kraft nicht mehr als ein «tradeunionistisches», also ein gewerkschaftliches Bewußtsein hervorzubringen vermochten und infolgedessen, um politisch wirken zu können, der Führung bedurften. Diese sollte bei einer Gruppe von intellektuellen und proletarischen «Berufsrevolutionären» liegen, und nur wer zu dieser Elite gehörte, sollte Mitglied der Partei werden können. Diese These entwickelte Lenin 1902 in seiner Streitschrift «Was tun?», die vom sozialdemokratischen Parteiverlag J. H. W. Dietz in Berlin veröffentlicht wurde (den Titel entnahm der Autor dem gleichnamigen Roman von Nikolai Tschernyschewski aus dem Jahr 1863). Julius Martow war grundsätzlich anderer Meinung: Er erstrebte eine sozialdemokratische Massenpartei, die allen kampfbereiten Arbeitern offenstehen sollte, und wußte damit die Mehrheit der maßgeblichen Mitglieder der im Exil wiedererstandenen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, unter ihnen Axelrod und Leo Bronstein, genannt Trotzki, hinter sich.
    Auf dem zweiten Parteitag, der im Sommer 1904 erst in Brüssel, dann in London abgehalten wurde, unterlagen Lenin und Plechanow bei der Abstimmung über die Frage Eliten- oder Massenpartei. Bei einer weiteren Abstimmung über die weniger wichtige Frage, welche Organisation die Partei im Ausland vertreten sollte, erhielt die Gruppe um Lenin aber die Mehrheit. Sie setzte sich auch bei den Wahlen zur Redaktion der «Iskra» und zum Zentralkomitee durch. Seit diesen Abstimmungen war die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei gespalten in die Mehrheitsgruppe, die Bolschewiki, und die Minderheitsgruppe, die Menschewiki.
    Die überraschenden Mehrheiten verdankten die Anhänger Lenins der Tatsache, daß sieben Delegierte des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Rußland, kurz Bund genannt, den Kongreß vorübergehend verlassen hatten, nachdem ein Antrag auf einen föderativen Aufbau der Partei und die fortdauernde Autonomie des Bundes der Ablehnung verfallen war. Der Bund war 1897 gegründet worden. Außerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei standen die 1892 entstandene Polnische Sozialistische Partei unter Führung von Josef Pilsudski, die die Einigung der Arbeiter in allen drei Teilungsgebieten und die Schaffung einer unabhängigen polnischen Republik auf ihr Banner geschrieben hatte, und die von dieser 1895 abgespaltene Sozialdemokratische Partei Russisch-Polens, seit 1900 Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen und Litauen, um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, die nationale Autonomie im Rahmen einer russischen föderativen Republik anstrebte. Im Jahre 1900 begannen auch die Narodniki, sich aufs neue zu formieren: Auf einer Geheimkonferenz in Charkow im folgenden Jahr gründeten sie unter Führung von Viktor Tschernow die Partei der Sozialrevolutionäre. Ihr wichtigstes Ziel war eine

Weitere Kostenlose Bücher