Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
kommunistischen Entwicklung dienen.») Plechanow hielt diese Einschätzung aus guten Gründen für eine Illusion und die russischen Bauern für ein konservatives Element. Als Marxist ging er davon aus, daß in Rußland nicht anders als im Westen die bürgerliche Revolution der proletarischen vorausgehen mußte. Folglich konnte eine sozialistische Partei nur eine Arbeiterpartei sein; sie zu führen war Aufgabe der sozialistischen Intelligenz.
Von der Gruppe «Befreiung der Arbeit» angeregt, entstanden in Rußland seit Mitte der achtziger Jahre erste marxistische Zirkel, die sich 1895 unter Leitung von Julius Martow (eigentlich Juli Ossipowitsch Cederbaum) im St. Petersburger «Kampfbund für die Befreiung der Arbeiterklasse» zusammenschlossen. Zu seinen Mitgliedern gehörte auch der junge Rechtsanwalt Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich 1893 in der Hauptstadt des Zarenreiches niedergelassen hatte. Uljanow hatte eine schreckliche Erfahrung hinter sich: die Hinrichtung seines älteren Bruders Alexander, eines Teilnehmers der letzten Verschwörung der Narodniki gegen Zar Alexander III., im Jahr 1887. Über die Schriften von Plechanow fand er den Weg zu Marx und von dort in einen marxistischen Kreis in St. Petersburg. Nach der Rückkehr von einer Auslandsreise nach Deutschland und in die Schweiz, auf der er den aus Prag stammenden führenden Theoretiker der deutschen Sozialdemokraten, Karl Kautsky, und Plechanow kennengelernt hatte, wurde Uljanow, ebenso wie Martow, verhaftet; nach der Entlassung aus dem Gefängnis mußte er für die Dauer von drei Jahren in die Verbannung nach Ostsibirien gehen; nach dem sibirischen Fluß Lena wählte er 1901 den Namen, der ihn später weltberühmt machen sollte: Lenin.
In die Zeit seiner Verbannung fiel die Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auf einem geheimen Kongreß in Minsk im Jahre 1898. Die Partei zerfiel jedoch rasch wieder, da alle ihrer Gründungsdelegierten kurz nach dem Treffen verhaftet wurden. Der Neuaufbau begann zwei Jahre später, aber nicht von Rußland, sondern von Deutschland, von München, aus. Dort saß die Redaktion der neugegründeten Zeitschrift «Iskra» (Der Funke), die mit Hilfe der deutschen Sozialdemokraten im Keller des Parteiorgans «Vorwärts» in Berlin gestapelt und von dort über Königsberg nach Rußland geschmuggelt wurde. Die Leitung der «Iskra» hatte, nach überwindung anfänglichen Widerstands von Plechanow, Lenin übernommen, der nach Ende seiner Verbannung im Frühjahr 1900 nach Deutschland ausgereist war. Als sein Hauptziel betrachtete Lenin den Aufbau einer straff organisierten, im Untergrund operierenden, revolutionären Verschwörerpartei, die sich konsequent auf den Boden der Marxschen Theorie stellte und alle Abweichungen von der richtigen Lehre unerbittlich bekämpfte.
Lenin übernahm von Marx vor allem das, was ihm auf das rückständige Rußland besonders gut zu passen schien, obenan die Idee der «revolutionären Diktatur des Proletariats», die er jedoch auf bezeichnende Weise abwandelte. Marx und Engels hatten unter der «Diktatur des Proletariats» den Ausdruck des Willens der Masse der Werktätigen verstanden, die ihrerseits die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildeten. Für Lenin war die Diktatur des Proletariats die «Organisierung der Avantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse zwecks Niederhaltung der Unterdrücker». So formulierte er es zwar erst 1917 in seiner Schrift «Staat und Revolution», aber er faßte damit nur das Ergebnis seines langen Nachdenkens über die richtige revolutionäre Strategie für Rußland und die Welt zusammen.
Völlig fremd war der Gedanke der Führung der Arbeiterklasse durch eine kleine revolutionäre Elite den Begründern des «Wissenschaftlichen Sozialismus» freilich durchaus nicht. Friedrich Engels äußerte Anfang 1882 in einem Brief die Überzeugung, daß in Rußland «die Avantgarde der Revolution zum Schlagen kommen wird». Drei Jahre später, im April 1885, vermutete er in einem Brief an Vera Sassulitsch zur Lage im Zarenreich, «daß man sich dort seinem 1789 nähert». Rußland sei «einer der Ausnahmefälle, in denen es einer Handvoll Leute möglich ist, eine Revolution zu machen », und «wenn jemals der Blanquismus – die Phantasie, eine ganze Gesellschaft durch eine kleine Verschwörergruppe umzuwälzen – eine gewisse Daseinsberechtigung gehabt hat, dann sicherlich in Petersburg». In Rußland würden alle gesellschaftlichen
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