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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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ihnen unterstützten Kandidaten die Kontrolle über mehrere einzelstaatliche Parlamente; von ihnen geförderte Bewerber, meist Demokraten, gewannen sechs Gouverneurswahlen, drei Sitze im amerikanischen Senat und rund 50 Mandate im Repräsentantenhaus. 1892 gingen die Farmers’ Alliances einen gewichtigen Schritt weiter: In Omaha, Nebraska, gründeten sie die People’s Party, verabschiedeten ein Programm und nominierten eigene Kandidaten für die Ämter des Präsidenten und des Vizepräsidenten der USA. Bei den Präsidentenwahlen von 1892 konnte ihr Kandidat, General James B. Weaver, ein Veteran des Bürgerkrieges, über 1 Million Stimmen auf sich vereinigen; das entsprach einem Anteil von 8,5 Prozent. Die People’s Party gewann gleichzeitig sechs Gouverneurswahlen, eroberte fünf Sitze im amerikanischen Senat und stellte zehn Kongreßabgeordnete. Sie konnte aber auch auf die Unterstützung einiger Demokraten und Republikaner rechnen, die mit ihrer Hilfe in Senat oder Repräsentantenhaus gelangt waren.
    Die «Populists», wie man die People’s Party allgemein nannte, wollten keine reine Farmerbewegung sein. Sie traten nicht nur das Erbe der Grangers und der Farmers’ Alliances an, sondern auch das der 1876 gegründeten Independent National Party, der sogenannten «Greenback Party», deren Hauptanliegen die Vermehrung der Geldzirkulation durch Papiergeld und die Abkehr vom Goldstandard war: ein Programm zur Bekämpfung der Deflation, mit dem sie neben Farmern gezielt auch Arbeiter umwarb. Dasselbe tat die Populist Party, indem sie kürzere Arbeitszeiten und Einwanderungsbeschränkungen forderte und sich scharf gegen Streikbrecherorganisationen nach Art der «Pinkertons» aussprach. Nennenswerte Einbrüche in die Arbeiterschaft gelangen ihr nicht; sie blieb eine Partei des überwiegend ländlichen und kleinstädtischen Protests.
    Der Populismus der neunziger Jahre vertrat Positionen, die es schwer machen, ihn politisch einzuordnen. Die neue Partei befürwortete mehr direkte Demokratie in Gestalt von Referenden, der Direktwahl des Senats der Vereinigten Staaten (dessen Mitglieder bisher durch die Gesetzgebungsorgane der Einzelstaaten gewählt wurden) durch das Volk und die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten und des Vizepräsidenten auf eine Wahlperiode. Einige Forderungen der Populisten klangen sozialistisch oder zumindest sozialdemokratisch, so der Ruf nach der Verstaatlichung der Eisenbahnen und des Telegraphenwesens, der Einrichtung staatlich kontrollierter Postsparkassen und einer gestaffelten Einkommensteuer, andere wie das Verlangen nach einem Verbot von ausländischem Landbesitz und einer Einwanderungssperre für die «ärmeren und verbrecherischen Klassen der Welt» (the pauper and criminal classes of the world) waren rückwärtsgewandt und fremdenfeindlich. Manche Repräsentanten der Populist Party äußerten sich offen antisemitisch, andere distanzierten sich von Angriffen auf das Judentum. Fast alle Populisten gaben sich antiurban und antiintellektuell.
    Da die amerikanischen Farmer, anders als die europäischen Bauern, längst schon selbst kapitalistische Unternehmer waren und von der fortschreitenden Mechanisierung der Landwirtschaft profitierten, griffen die Populisten weder den Kapitalismus noch das Industriesystem pauschal an. Sie konzentrierten ihre Angriffe vielmehr auf «big business» und seine bevorzugte Behandlung durch die Regierung. Sie entwarfen kein Bild einer künftigen Gesellschaft, sondern verklärten Zustände, die der Vergangenheit angehörten: ein von der Landwirtschaft und kleinen selbständigen Unternehmern geprägtes Amerika, in dem noch nicht anonyme Apparate und einige wenige große Konzerne Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beherrschten. In den Worten des Historikers Richard Hofstadter: «Die Utopie der Populisten lag in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft.»
    Die Populisten erhoben den Ruf nach inneren Reformen just in der Zeit, in der die große inner kontinentale Wanderungsbewegung, das «westward movement», auszulaufen begann. Als Frederick Jackson Turner im Juli 1893 seinen berühmten Vortrag über die Bedeutung der wandernden Grenze, der «frontier», in der amerikanischen Geschichte hielt, war das bereits ein Rückblick. Gleichzeitig beschleunigte sich in Amerika der Übergang von der agrarischen zur modernen, urbanen Industriegesellschaft. Der Populismus war ein Ausdruck dieses Übergangs, und daraus erklärt sich zu einem guten Teil der schillernde,

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