Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
widersprüchliche Charakter dieser Bewegung.
Im Zentrum der praktischen Politik der Populisten stand, wie bei den «Greenbacks» der siebziger Jahre, die Deflationsbekämpfung: Das reichlich vorhandene Silber sollte wieder neben dem knapp gewordenen Gold zur Deckung des Dollars herangezogen werden, und zwar im Verhältnis 16 zu 1, das bis 1873 gegolten hatte, also der offiziellen Tauschrate von 16 Unzen Silber gleich 1 Unze Gold. Von der Rückkehr zum «Bimetallismus», einschließlich der 1873 aufgegebenen Prägung von Silberdollars, erhofften sich die Anwälte von «free silver» eine Erhöhung der Preise für Farmerzeugnisse und eine Erleichterung der Schuldenzahlung.
Mit dem Schlachtruf «free silver» wäre die Populist Party auch in den Präsidentschaftswahlkampf von 1892 gezogen, hätten sich nicht auf der turbulent verlaufenen Convention der Demokraten die Vertreter des Südens und des Westens mit ebendieser Forderung durchgesetzt und dem beredtesten Fürsprecher einer solchen Währungsreform, dem Kongreßabgeordneten William Jennings Bryan, zur Präsidentschaftskandidatur verholfen. Die Populist Party beschloß daraufhin, auf einen eigenen Kandidaten zu verzichten und Bryan zu unterstützen. Trotz dieser Hilfe und eines erstmals im ganzen Gebiet der Union systematisch geführten Wahlkampfes unterlag der gemeinsame Kandidat der Demokraten und Populisten dem republikanischen Bewerber McKinley.
Die Populist Party sollte sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen: Sie hatte nicht nur den Kampf um «free silver» verloren, sondern auch ihre politische Eigenständigkeit preisgegeben. Wenige Monate nach der Wahl begann sich die Partei aufzulösen. Ihr Scheitern als Organisation erleichterte aber auf paradoxe Weise die Durchsetzung einiger ihrer Forderungen, nämlich der nach mehr direkter Demokratie: Die beiden großen Parteien erwiesen sich als lernfähig und Übernahmen, wie wir noch sehen werden, aus dem Programm der Populisten das, was ihnen mit ihren Zielen vereinbar schien. Das Hauptanliegen der Populist Party, der Bimetallismus, verlor, seit Goldfunde in Südafrika, Australien und Alaska den Goldpreis wieder sinken ließen, allmählich an Bedeutung. Die 1896 einsetzende Hochkonjunktur tat ein übriges, der Krisenstimmung unter den amerikanischen Farmern den Boden zu entziehen. Die agrarische Protestbewegung des späten 19. Jahrhunderts aber hatte eine bleibende Wirkung: Die beiden großen Parteien maßen den Belangen der Landwirtschaft fortan höchste Bedeutung bei und verhalfen ihr zu jener privilegierten Stellung, die sie bis heute in der Politik aller Administrationen genießt.
Mit manchen ihrer Forderungen sprachen die Protestbewegungen von den «Greenbacks» bis zu den Populisten nur aus, was die Mehrheit der Amerikaner empfand. Das galt vor allem für die Warnungen vor einer ungebremsten Immigration aus sehr viel ärmeren Weltgegenden, namentlich aus Asien. Der Kongreß reagierte rasch. Bereits 1882, unter der Präsidentschaft des Republikaners Chester A. Arthur, verbot ein Bundesgesetz die Einwanderung ungelernter chinesischer Arbeiter, der «Kulis» (coolis). Im gleichen Jahr schloß ein Gesetz Geisteskranke und Personen, von denen anzunehmen war, daß sie auf die Armenfürsorge angewiesen sein würden, von der Einwanderung aus. 1907/08, auf dem Höhepunkt der Furcht vor der «gelben Gefahr», der «yellow peril», zwang Präsident Theodore Roosevelt, ein Republikaner, die japanische Regierung zum sogenannten «Gentlemen’s Agreement», in dem sich Tokio verpflichtete, arbeitssuchenden Japanern keine Reisepässe für die Vereinigten Staaten auszustellen.
Die Abwehr von Einwanderern aus Ostasien war nicht nur der Furcht vor billiger Konkurrenz geschuldet. Die Diskriminierung von Chinesen und Japanern entsprach auch dem in den Eliten verbreiteten Glauben an die kulturelle Überlegenheit der weißen Rasse oder, noch genauer, der «teutonischen» und vor allem der angelsächsischen Völker. Dieser Rassismus fügte sich nahtlos ein in die sozialdarwinistische Überzeugung vom «struggle for existence» und dem «survival of the fittest», eine Denkrichtung, die von Darwins «Entstehung der Arten», mindestens ebenso stark aber von Herbert Spencers Evolutionslehre beeinflußt war. Im Amerika des «fin de siècle» fand diese Welt- und Geschichtssicht schon deshalb Anhänger, weil sie auch den Aufstieg tüchtiger Unternehmer in marktbeherrschende Positionen zu erklären und zu rechtfertigen schien.
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