Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Socialist Labor Party. Sie fand nicht zuletzt bei Einwanderern aus Europa Anklang und trat auch immer wieder bei Präsidentschaftswahlen an. 1912 kam sie, mit Debs als Kandidat, auf fast 900.000 Stimmen, was einem Stimmenanteil von 6 Prozent entsprach. Die AFL aber wollte von einer eigenen Arbeiterpartei auch weiterhin nichts wissen und trug damit wesentlich dazu bei, daß die Socialist Party über den Status einer politischen Sekte nicht hinausgelangte.
«Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?» Der Titel einer 1906 erschienenen Schrift des deutschen Nationalökonomen Werner Sombart formulierte eine Frage, die sich vermutlich viele europäische Beobachter stellten. Sombart, einer der deutschen Teilnehmer am «Congress of Arts and Science», einer Veranstaltung anläßlich der Weltausstellung von 1904 in St. Louis, nannte eine Vielzahl von Gründen, die es nach seiner Meinung plausibel machten, warum es ausgerechnet im «Kanaan» des Kapitalismus keine breite sozialistische Fundamentalopposition gegen das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gab. Das Fehlen von Überresten vorkapitalistischer Klassen und namentlich einer feudalen Aristokratie hatte dazu geführt, daß das kapitalistische Wirtschaftssystem unumschränkt herrschen konnte: ein markanter Unterschied zur alten Welt. Die Arbeiter sahen für sich in Amerika soziale Aufstiegschancen, wie es sie sonst nirgendwo in der Welt gab, und wenn auch die wenigsten tatsächlich von der abhängigen Industriearbeit im Osten in die selbständige bäuerliche Landwirtschaft des weiten Westens wechselten oder den vielbeschworenen Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär schafften, so bewirkte doch der Glaube, nicht ein für allemal Arbeiter bleiben zu müssen, ein freieres Bewußtsein, als es europäischen Arbeitern eigen war. Die amerikanischen Arbeiter fühlten sich als patriotische Teilhaber des Ganzen, als Glieder einer großen demokratischen Nation, als sozial gleichberechtigte Bürger. Dazu kam ihr relativer Wohlstand: Nach Sombarts gewagter Schätzung waren die Arbeitslöhne in den USA dreimal so hoch wie in Deutschland.
Aus alledem ergab sich ein beträchtliches Maß an Zufriedenheit mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung: «An Roastbeef und Apple pie wurden alle sozialistischen Utopien zuschanden.» Daß die Bedingungen, die die Sonderentwicklung der USA bisher gewährleistet hatten, auch in Zukunft Bestand haben würden, glaubte Sombart allerdings nicht. Er gab zwar keine nähere Begründung für seine Prognose, daß der Sozialismus im nächsten Menschenalter auch in den Vereinigten Staaten «zu vollster Blüte gelangen wird». Aber wenn man seine sachlich nicht haltbare Behauptung bedenkt, daß die Arbeiter objektiv nirgendwo so stark ausgebeutet würden wie in den USA, lag die Vermutung auf der Hand, daß die Arbeiter nach Sombarts Meinung früher oder später sich ebendieser vermeintlichen Tatsache bewußt werden mußten.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam die schärfste Kritik am politischen System der USA nicht von den Arbeitern, sondern von den Farmern: Von ihnen wurde das Duopol der Republikaner und Demokraten zeitweilig sehr viel wirksamer in Frage gestellt als später von der Socialist Party. Anlaß zu sozialem Protest bot vor allem der Fall der Agrarpreise im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskrise nach dem Wiener Börsenkrach von 1873. Ein landwirtschaftliches Organisationsnetz gab es um diese Zeit bereits: 1867 hatten die Farmer die National Grange of the Patrons of Husbandry gegründet. Der Preisverfall ließ ihre Mitgliederzahl stark anwachsen; in den Staaten des Mittleren Westens gewannen die «Grangers» breite politische Unterstützung für ihre Kampagne gegen hohe Frachttarife und Speicherkosten der Eisenbahngesellschaften und niedrige Preise für Agrarprodukte in den Warenhäusern. Viele Einzelstaaten trugen den Forderungen der Farmer in Form der «Granger Laws» Rechnung. Die Eisenbahngesellschaften wehrten sich jedoch mit Klagen wegen Verletzung der Gewerbefreiheit, und häufig gaben ihnen die Gerichte recht.
Einen sehr viel breiteren Rückhalt als die Grangers gewannen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Farmers’ Alliances, genossenschaftsähnliche Vereinigungen, deren stärkste Bastionen im Süden und Westen lagen. 1889 schlossen sie sich zu einem losen Aktionsbündnis auf nationaler Ebene zusammen. In den «off year-» oder Halbzeitwahlen von 1890 erlangten sie durch die von
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