Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
sich bewußt und gezielt am deutschen Vorbild ausrichtete.
Im Allgemeinen wird der Durchbruch zur klassischen Moderne in die Jahre zwischen 1880 und 1914 datiert: die Zeit, in der in Amerika wie in großen Teilen Europas die Agrargesellschaft endgültig von der Industriegesellschaft abgelöst wurde. Innerhalb der Industrie traten damals die neuen Leitsektoren der Stahl-, der Chemie- und der elektrotechnischen Industrie an die Stelle der alten, der Baumwoll- und der Eisenindustrie. Als «modern» galten Industrie und Technik, die Großstadt und ihre Massen, die Entstehung eines (von Hans Rosenberg so genannten) «politischen Massenmarktes», das Drängen aufgeklärter Frauen auf die umfassende Gleichberechtigung der Geschlechter, Säkularisierung und Entkirchlichung, die Kritik an den vorherrschenden, von männlichen Vorurteilen geprägten, in England als «viktorianisch», in Deutschland als «wilhelminisch» bezeichneten, als heuchlerisch empfundenen Moralvorstellungen. «Modern» waren der Naturalismus in der Literatur, für den die Romane von Zola, Dostojewski und Tolstoi und die Dramen von Ibsen, Strindberg und Gerhart Hauptmann standen, sowie in der bildenden Kunst die Abwendung von epigonalen Stilimitationen wie Historienmalerei, Neoromanik und Neogotik im Zeichen des Mutes zur Subjektivität und der Suche nach Authentizität: Kunstrichtungen, wie sie zuerst die französischen Impressionisten, dann die deutschen Expressionisten und die Vertreter von Arts and Crafts Movement, Jugendstil und Art nouveau vertraten. Vieles von dem, was man gemeinhin mit dem Begriff der «neuen Sachlichkeit» verbindet, begann nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg, sondern mit der Durchsetzung einer funktionalen Architektur in den Jahren vor 1914. Um 1910 entstanden in Wien die ersten atonalen Musikwerke von Arnold Schönberg. Die «moderne Kunst» huldigte einem anderen Schönheitsideal als die «klassische»; die Wirklichkeit, die sie zum Ausdruck brachte, schloß das Häßliche mit ein; in ihr spiegelten sich die Zerrissenheit des modernen Menschen und die Widersprüche der industriellen Gesellschaft.
Das gesteigerte Tempo, das die Entwicklung der modernen Technik mit sich brachte, das Näherrücken des bislang Fernen, Lärm und Akkord, die ReizÜberflutung der Großstadt, die Erschütterung alter Gewißheiten, die ständige Infragestellung des Hergebrachten: all das schuf eine Atmosphäre der Nervosität und mit ihr das Bedürfnis, die Nervosität zu kurieren. Ruhe ließ sich nur zeit- und ausnahmsweise verordnen; mehr versprachen sich Nervenärzte und Laien von der Willenstherapie. «Wille ist Kraft» lautete ein beliebtes Motto der Populärpsychologie. Was für Individuen galt, wurde auf Kollektive übertragen, vor allem auf das der Nation: Im Zeichen eines verschärften internationalen, ja globalen Wettbewerbs kam es auf den Willen an, nicht hinter andere zurückzufallen, sondern mit ihnen Schritt zu halten und sie nach Möglichkeit zu übertreffen. Weltweit anerkannt zu werden war der Imperativ, dem sich alle größeren Nationalstaaten unterwarfen – am meisten die jüngeren wie Deutschland und Italien, die in Sachen Weltgeltung einen beträchtlichen Nachholbedarf verspürten. Nicht zufällig fiel der Durchbruch der klassischen Moderne um 1880 mit einem gewaltigen Globalisierungsschub, dem Beginn der Hochzeit des Imperialismus, zusammen. Doch neben der nationalistischen und kriegerischen gab es auch eine internationalistische und friedliche Erscheinungsform des neu erwachten Strebens nach Rekorden und weltweiter Anerkennung: die Wiederbelebung der olympischen Idee durch den französischen Baron Pierre de Coubertin im Jahre 1894 – gefolgt von den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit in Athen zwei Jahre später.
Was modern war, war zugleich auch transnational: Alle auf Neuerung und Emanzipation ausgerichteten Bewegungen wurden, wenn auch nicht immer gleichzeitig, in allen Ländern des Westens aktiv. Die Frauenbewegung begann 1848 mit einer amerikanischen Frauenrechtskonferenz in Seneca Falls im Staat New York, die in einer «Declaration of Sentiments» den Anspruch auf volle Gleichberechtigung der Geschlechter mit dem Naturrecht und den Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung von 1776 begründete. Vier Jahrzehnte später, 1888, fand in Washington eine internationale Frauenkonferenz statt; aus ihr ging der erste internationale Frauenverband, der International Council of Women, hervor. 1903 gründete Emmeline Pankhurst
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