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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Proletariats von der übrigen Gesellschaft und seine Bereitschaft, sich die sozialistische Lehre vom Klassenkampf anzueignen. In Amerika war die strikte Trennung von Staat und Kirche eine Tradition, die in die Kolonialzeit zurückreichte, und eben deswegen hatte die Religion sich hier einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt bewahrt, wie es ihn nur noch in wenigen europäischen Ländern gab. In Europa bedeutete die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse zunehmend Kirchenferne und Kirchenfeindschaft; amerikanische Arbeiter unterschieden sich in ihrer Religiosität kaum von anderen gesellschaftlichen Gruppen. Amerikanische Eltern pflegten, anders als europäische, zu ihren Kindern ein kameradschaftliches Verhältnis und verabscheuten es, ihre Autorität herauszukehren: eine Beobachtung, die vor allem deutsche Besucher irritierte.
    Liberal gesinnte Europäer waren von den freien Umgangsformen der Amerikaner beeindruckt und wußten ihre Liebe zur Gleichheit zu schätzen. In Amerika glaube man weder an der gesellschaftlichen Spitze noch in den Unterschichten an Klassenunterschiede, schrieb der französische Historiker und Ökonom Vicomte Georges d’Avenel im Jahre 1908. «Jeder ist fest davon überzeugt, Gleicher unter Gleichen zu sein; das ist ein großes Glück und eine enorme Stärke für die Nation.» Der Philosoph émile Boutmy, ein Landsmann d’Avenels, sah Individuen, die sich ihren Weg bahnen wollten, in Frankreich durch tausenderlei Umstände und Zufälle behindert, wohingegen in Amerika sich im allgemeinen jeder als seines Glückes Schmied fühle: «Es genügt ihm, den Moment abzupassen, in dem er seine Chance haben wird, und dieser Augenblick wird kommen.»
    Als bestimmendes Element des «American way of life» erschien vielen europäischen und zumal deutschen Amerikareisenden der grassierende Materialismus. «Der Amerikaner will Geld haben, und sein ganzes Sinnen und Trachten und Schaffen ist allein darauf gerichtet», befand in den neunziger Jahren ein konservativer deutscher Offizier namens Korff. Beliebt waren die Klischees von der amerikanischen Monotonie, der die Vielfalt der alten Welt gegenübergestellt wurde, vom Gegensatz zwischen amerikanischer Traditionslosigkeit und europäischer, namentlich deutscher Kultur, von Tempo dort und Gründlichkeit hier. «Vermassung» und «Massenkultur» waren in Amerika weiter fortgeschritten als in Europa, aber sie gewannen auch hier an Boden. Die amerikanischen Millionenstädte mit ihren Wolkenkratzern galten als der abschreckende Ausdruck des heraufziehenden Zeitalters der Massen.
    «Was hat Nürnberg mit Chicago gemeinsam?», fragte Sombart rhetorisch. «Nichts als die äußerlichen Merkmale, daß viele Menschen eng beieinander in Straßen wohnen, die für ihren Unterhalt auf Zufuhr von außen angewiesen sind. Dem Geiste nach nichts. Denn jenes ist ein dorfartig, organisch-gewachsenes Gebilde, dieses ist eine nach ‹rationellen› Grundsätzen künstlich hergestellte, wirkliche ‹Stadt›, in der (würde Tönnies sagen) alle Gemeinschaftsspuren ausgelöscht und die reine Gesellschaft niedergeschlagen ist.» Der von Sombart genannte Soziologe Ferdinand Tönnies hatte 1867 in seinem Buch «Gemeinschaft und Gesellschaft» die These vertreten, daß im Verlauf der Geschichte die ältere, natürlich gewachsene, lebendige Gemeinschaft immer mehr von der Gesellschaft, einem von Egoismus und Profitgier geprägten, mechanischen Kunstprodukt, verdrängt werde, das besonders in der Großstadt und dem Staat zum Ausdruck komme.
    Der Staat spielte im Leben und Denken der Europäer eine sehr viel größere Rolle als in dem der Amerikaner. Im europäischen Teil des Okzidents war der Staat, gemäß der klassischen Definition Max Webers, «ein politischer Anstaltsbetrieb …, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt». Im «Wilden Westen» der USA begann sich dieser Anspruch erst Ende des 19. Jahrhunderts allmählich gegenüber dem Faustrecht durchzusetzen.
    Die Europäer waren es spätestens seit der Zeit des Absolutismus gewöhnt, der zivilen Staatsgewalt in Gestalt eines fachlich spezialisierten Berufsbeamtentums zu begegnen. In Amerika galt für höhere Verwaltungspositionen noch immer das «spoils system», dem zufolge das Personal ausgewechselt wurde, wenn eine der beiden rivalisierenden Parteien die andere an der Macht ablöste. Erst unter der Präsidentschaft des

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