Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
in England zusammen mit anderen Suffragetten die Women’s Social and Political Union, die mit Großdemonstrationen und spektakulären Aktionen wie Hungerstreiks, Steuerboykott, Selbstankettungen und Sprengung von Versammlungen für ihr Ziel, gleiche Rechte für Frauen und Männer, kämpfte.
Die ideologisch gespaltene deutsche Frauenbewegung trat demgegenüber ausgesprochen gemäßigt auf. Ihr bürgerlicher Flügel war sich hinsichtlich des Frauenwahlrechts nicht einig: Der von Louise Otto-Peters 1865 gegründete Allgemeine Deutsche Frauenverein verzichtete aus taktischen Gründen auf diesen Programmpunkt, während sich Hedwig Dohm, die Autorin des 1876 erschienenen Buches «Der Frauen Natur und Recht», und ihre Mitstreiterinnen Minna Cauer und Anita Augspurg nachdrücklich für das Frauenstimmrecht engagierten. Zu den entschiedensten Vorkämpferinnen des Frauenwahlrechts gehörten, wovon noch die Rede sein wird, sozialdemokratische Politikerinnen. Sie ließen allerdings keinen Zweifel daran aufkommen, daß die volle Emanzipation der Frau nicht in der bürgerlichen, sondern erst in der sozialistischen Gesellschaft verwirklicht werden würde. Insgesamt traten Frauenbewegungen in protestantischen Ländern früher und aktiver in Erscheinung als in katholischen, was eng mit unterschiedlichen Graden der Volksbildung, der Industrialisierung und der gesellschaftlichen Mobilität zusammenhing.
Der erste europäische Staat, der das Frauenstimmrecht einführte, war 1906 das noch unter russischer Oberhoheit stehende Finnland. Bis 1915 folgten Dänemark und, mit gewissen Einschränkungen, Norwegen, Island und Kanada. Zu den Staaten, die 1918, im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, den Frauen das aktive und passive Wahlrecht gaben, gehörten Österreich, Deutschland, Rußland und Großbritannien – das letztere mit dem erst 1928 entfallenen diskriminierenden Unterschied, daß Männer ab dem vollendeten 21., Frauen erst ab dem vollendeten 30. Lebensjahr wählen durften. Die USA führten, wie erwähnt, das Frauenwahlrecht 1920 ein. Frankreich, das Land, in dem Olympe de Gouges bereits 1791 eine «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» verfaßt hatte, tat diesen Schritt erst 1944. Noch länger mußten die Frauen in zwei Alpenländern auf das Wahlrecht warten: Die Schweizerinnen erhielten es 1971, die Liechtensteinerinnen 1984.
Deutlich «internationaler» als die Frauenbewegung war die Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern erstarkende Arbeiterbewegung. Die Erste Internationale war vor allem am Gegensatz zwischen den Anhängern von Karl Marx und denen des russischen Anarchisten Michail Bakunin gescheitert und hatte sich 1876 auf einer Konferenz in Philadelphia formell aufgelöst. Am 14. Juli 1889, dem 100. Jahrestag des Sturmes auf die Bastille, traten in Paris die Delegierten von Arbeiterparteien und Gewerkschaften aus zwanzig Ländern, darunter den meisten europäischen Staaten sowie den USA und Argentinien, zu einer Konferenz zusammen, aus der die Zweite Internationale hervorging. Sie verständigte sich unter anderem darauf, den 1. Mai 1890 als große internationale Manifestation zu organisieren, bei der die Arbeiter zur gleichen Zeit in allen Städten für die Einführung des achtstündigen Arbeitstages demonstrieren sollten.
Die Anregung hierzu kam aus den Vereinigten Staaten: Im Dezember 1888 hatte ein Kongreß der American Federation of Labor in St. Louis beschlossen, am 1. Mai 1889 in allen großen Städten der Union Massenkundgebungen im Zeichen ebendieses Zieles abzuhalten. Der Pariser Beschluß wurde allerdings in durchaus unterschiedlichen Formen in die Tat umgesetzt: als Generalstreik in vielen Städten Frankreichs und Österreich-Ungarns, als Tag großer Aufmärsche in vielen anderen Ländern; in England und Deutschland fanden die Demonstrationen jedoch nicht am 1. Mai 1890, sondern erst am darauf folgenden Sonntag statt, so daß Arbeitsniederlegungen nicht erforderlich wurden. Als auf dem folgenden Kongreß in Brüssel über den Antrag abgestimmt wurde, alle Kundgebungen auf denselben Tag, den 1. Mai, zu legen, stimmten die Briten mit Nein; die Deutschen stimmten zwar zu, legten ihre Veranstaltungen aber auf den Abend des Tages. Dennoch war das öffentliche Echo auf die Kundgebungen der Arbeiter so stark, daß daraus rasch eine internationale Tradition wurde.
Die Zweite Internationale besaß zunächst weder ein Programm noch eine Organisation und nicht einmal einen Namen. Erst 1900 beschloß sie
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