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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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der erzreaktionäre General Victoriano Huerta putschte, war der abgewählte, aber noch amtierende Präsident Taft rasch bereit, den neuen Machthaber anzuerkennen. Bevor es dazu kam, wurde Madero, offensichtlich auf Veranlassung Huertas, ermordet. Der neue amerikanische Präsident Wilson weigerte sich, den blutigen Umsturz durch eine diplomatische Anerkennung zu sanktionieren. Dennoch konnte sich das Regime Huertas, auch mit Hilfe amerikanischer Wirtschaftskreise, an der Macht behaupten und eine Diktatur errichten.
    Im Frühjahr 1914 lieferte ein Zwischenfall, die willkürliche Verhaftung von amerikanischen Marinesoldaten durch einen mexikanischen Offizier, den Anlaß zu einer militärischen Intervention. Sie mündete in die Besetzung der Hafenstadt Veracruz. Oppositionellen Kräften, den «Konstitutionalisten» unter Venustiano Carranza, dem Gouverneur von Coahuila, gelang es wenig später, Huerta zu stürzen. Nachdem Wilson im Oktober 1915 schließlich die Regierung Carranza de facto anerkannt hatte, lehnte sich der von den USA zeitweilig unterstützte Agrarrevolutionär Francisco «Pancho» Villa gegen seine bisherigen Förderer auf. Er ließ Anfang 1916 16 amerikanische Ingenieure erschießen und unternahm eine Expedition über die amerikanische Grenze nach New Mexico, wo seine Mitkämpfer den Ort Columbus plünderten und 17 Amerikaner töteten. Wilson ordnete eine Strafaktion unter General Pershing auf mexikanischem Boden an, die, was die Suche nach Pancho Villa betraf, erfolglos verlief, aber zu Gefechten mit mexikanischen Regierungstruppen führte. Ein Krieg zwischen den USA und Mexiko schien unmittelbar bevorzustehen. Aber Wilson entschloß sich zum Einlenken, zog die amerikanische Truppe ab und erkannte im März 1917, vier Monate nach seiner Wiederwahl, die Regierung Carranza auch de jure an. Der Grund der Kehrtwende lag in dem Krieg, der im August 1914 in Europa begonnen hatte: Die Vereinigten Staaten wurden immer mehr durch den deutschen Seekrieg im Atlantik in Mitleidenschaft gezogen und bereiteten sich darauf vor, an der Seite Englands und Frankreichs in den Krieg einzutreten.[ 25 ]
    Transnationale Moderne: Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts (I)
    «Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft»: Als Marx 1867 dieses Verdikt im Vorwort zum ersten Band des «Kapitals» niederschrieb, dachte er an das Vorbild, das England damals den Ländern des europäischen Kontinents gab. Vier Jahrzehnte später, 1906, nannte Werner Sombart die Vereinigten Staaten das «Land unserer Zukunft»: «Was 1867 Marx mit Recht von England aussagte, dürfen wir jetzt auf Amerika anwenden: de te fabula narratur, Europa (die Geschichte handelt von dir, Europa, H.A.W.), wenn wir über amerikanische Zustände reden. Wenigstens was die kapitalistische Entwicklung anbetrifft.»
    Wie Sombart ging es vielen gebildeten Europäern, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Amerika bereisten. Die Vereinigten Staaten waren für sie das Laboratorium einer Moderne, die auch auf dem «alten Kontinent» begonnen, aber sich dort noch längst nicht so stark durchgesetzt hatte wie in der «neuen Welt». Den meisten Beobachtern fiel als erstes ins Auge, was schon Tocqueville in den frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ebenso fasziniert wie erschreckt hatte: die Hochschätzung der Gleichheit. Mochten die objektiven Gegensätze zwischen Arm und Reich auch noch so kraß, ja schärfer ausgeprägt sein als in Europa, so riefen sie doch nicht das Bewußtsein einer Klassenspaltung hervor; die «Durchschnittsamerikaner» empfanden sich vielmehr nach wie vor als eine Gesellschaft der Freien und Gleichen. Wie es ein Fachkollege Sombarts, der Münsteraner Nationalökonom Johann Plenge, 1912 ausdrückte: «In Europa hatte das Bürgertum stets andere Schichten unter sich und neben sich, und seine Klassenstimmung konnte sich nie ungehemmt entfalten. In Amerika ist die bürgerliche Lebensanschauung das allgemeine nationale Bewußtsein geworden.»
    In Europa verfügte der Adel um 1900 noch immer über das höchste Sozialprestige, und in manchen Ländern, darunter Deutschland und Österreich-Ungarn, über erhebliche politische Macht. Der soziale Aufstieg von unten nach oben innerhalb einer Generation war in Europa sehr viel seltener als in den USA; hierarchisches Denken bestimmte zumindest auf dem Kontinent das Denken der Mittelschichten und war eine der Ursachen für die Absonderung des

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