Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Rolle spielte, kam im Erfurter Programm nicht vor: die «Diktatur des Proletariats». Um den Herrschenden keinen Vorwand für eine neue «gesetzliche» Verfolgung der Sozialdemokratie zu liefern, verzichteten die Autoren des Programms auch darauf, sich zum Ziel der demokratischen Republik oder gar zur Revolution zu bekennen. Doch es war nicht nur Taktik, wenn Kautsky, der in jenen Jahren zum führenden Theoretiker der deutschen und internationalen Sozialdemokratie aufstieg, der Revolution den Geruch von Aufstand, Barrikadenkämpfen und Blutvergießen zu nehmen versuchte. In der «Neuen Zeit» nannte er die Sozialdemokratie eine «revolutionäre, nicht aber Revolutionen machende Partei».
Die soziale Umwälzung, wie sie die Sozialdemokraten erstrebten, sollte Kautsky zufolge vom Proletariat durch die Eroberung der politischen Macht erkämpft werden. Aber anders als im rückständigen Rußland verfügte das Proletariat in «modernen Staaten» dank Koalitions- und Pressefreiheit und allgemeinem Wahlrecht über andere und bessere Waffen als die revolutionäre Bourgeoisie im 18. Jahrhundert. Auch das kaiserliche Deutschland rechnete Kautsky zu den «modernen Staaten», in denen das Proletariat die politische Macht auf demokratischem Weg, im Gefolge eines Wahlsieges, erobern konnte. Der Kampf um eine parlamentarische Regierungsform wurde dadurch zur Vorbedingung für den Sieg des Proletariats; die soziale Revolution konnte anschließend im wesentlichen auf evolutionärem Weg erfolgen. Der friedliche Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft hörte also auf, jener historische Ausnahmefall zu sein, als den Marx ihn betrachtet hatte; er wurde vielmehr zum europäischen Regelfall. Damit hatte Kautsky, auch wenn er es kategorisch bestritt, sich von Marx entfernt, ja mehr noch: Er hatte ihn «revidiert».
Bernstein hingegen entwickelte sich Ende der neunziger Jahre zum offenen «Revisionisten» und löste damit den «Revisionismusstreit» in der deutschen und internationalen Sozialdemokratie aus. 1898, drei Jahre nach dem Tod von Friedrich Engels, stellte er zunächst in einer Artikelserie unter der Überschrift «Probleme des Sozialismus» in der «Neuen Zeit», dann in einer zusammenfassenden Zuschrift an den sozialdemokratischen Parteitag in Stuttgart vom Oktober desselben Jahres wesentliche Annahmen von Marx und Engels in Frage. Sowohl die «Katastrophentheorie», die These vom unweigerlichen Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft, als auch die Doktrinen von der Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze, vom Untergang des Kleinbetriebs und vom Verschwinden der Mittelschichten erklärte er, gestützt auf umfangreiches Datenmaterial, für widerlegt. «Je mehr … die politischen Einrichtungen der modernen Nationen demokratisiert werden, um so mehr verringern sich die Notwendigkeiten und Gelegenheiten großer politischer Katastrophen … Die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, die Expropriation der Kapitalisten sind an sich keine Endziele, sondern nur ein Mittel zur Durchführung bestimmter Ziele und Bestrebungen.»
Im Jahr darauf ließ Bernstein die von Kautsky gewünschte ausführliche Darstellung seiner Kritik an den Klassikern des «Wissenschaftlichen Sozialismus» folgen: sein Buch «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie». Darin nannte er die Demokratie «Mittel und Zweck» zugleich: «Sie ist Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus.» Der Einfluß der Sozialdemokratie würde ein viel größerer sein als heute, wenn sie den Mut fände, «sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei». Bernstein wiederholte ein Wort, das seine zahlreichen Kritiker besonders empört hatte: «Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.» Er betonte, daß es ihm nicht um die «überwindung des Marxismus» gehe, sondern um die «Abstoßung gewisser Reste von Utopismus», die der Marxismus noch mit sich herumschleppe; er rief gegen die «bequeme Unterkunft» der Hegelschen Dialektik den Geist Kants, des Kritikers der reinen Vernunft, an und warnte abschließend davor, die «Berufung auf die gewaltsame Revolution zur inhaltslosen Phrase» werden zu lassen.
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