Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
außenpolitische Isolierung konnte Großbritannien schon 1788 durch einen Vertrag mit Preußen und den Vereinigten Niederlanden, einer Folge des Zusammengehens bei der Niederwerfung der «Patrioten» im Jahr zuvor, überwinden. Der Verlust des Gebiets, das sich 1776 für unabhängig erklärt hatte, wog schwer, bedeutete aber mitnichten das Ende Großbritanniens als Kolonialmacht. Um 1787 begann die Besiedlung Australiens, das zunächst eine reine Sträflingskolonie war, seit den neunziger Jahren aber auch freie Siedler, vor allem Schaf- und Rinderzüchter, aufnahm.
In Kanada zeigte England, daß es fähig war, aus den Fehlern zu lernen, die es gegenüber den späteren Vereinigten Staaten gemacht hatte: Die französischen und britischen Siedler, unter den letzteren viele Loyalisten aus den bisherigen amerikanischen Kolonien, erhielten 1791 ein hohes Maß an politischer Selbstbestimmung. Die Stabilisierung Kanadas half den Briten, Expansionsbestrebungen der Union in nördlicher Richtung abzuwehren und im sogenannten «Zweiten Unabhängigkeitskrieg» der Jahre 1812 bis 1814 die Vereinigten Staaten an den Rand einer Niederlage zu bringen. Das schließliche Ergebnis war der Friedensvertrag von Gent, der den Status quo ante, den bisherigen Grenzverlauf zwischen den USA und Kanada, bestätigte.
Nicht minder folgenreich war der Ausbau der britischen Herrschaft über Indien. Es wäre zwar eine Übertreibung zu sagen, dem ersten britischen Empire, das 1783 unterging, sei fast nahtlos das zweite gefolgt. Denn schon lange vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte die East India Company begonnen, ihren Einfluß auf dem indischen Subkontinent auszudehnen, und dasselbe galt für die Ausweitung der politischen Oberaufsicht über die Aktivitäten der Gesellschaft durch die britische Regierung: ein Prozeß, der seinen Abschluß in der East India Bill von 1784 fand. Aber für das Selbstbewußtsein und das Prestige Großbritanniens als Großmacht gewann der Faktor Indien nach dem Abfall der dreizehn nordamerikanischen Kolonien eine ungleich höhere Bedeutung als zuvor. 1794 nahmen die Briten den Holländern Ceylon ab; 1799 wurde der südindische Fürstenstaat Mysore in einen britischen Vasallenstaat verwandelt, 1803 Delhi, der Sitz des Großmoguls, erobert, bis 1819 die britische Oberhoheit über ganz Indien durchgesetzt. Die britische Herrschaft über diesen Teil Südasiens war eine der Voraussetzungen dafür, daß Großbritannien sich im 19. Jahrhundert mit größerem Recht als irgendeine andere Nation eine Weltmacht nennen konnte.
Eine andere Voraussetzung war die Industrielle Revolution. Ihr Siegeszug in den Jahren seit 1760 trug wesentlich dazu bei, daß die britische Oberschicht rasch über die Niederlage von 1783 hinwegkam. Großbritannien war die führende Wirtschaftsmacht der Welt: Daran gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts nichts mehr zu deuteln. Die politische Rivalität mit Frankreich freilich dauerte an. Sie nahm nach 1789 nur andere Züge an. Solange in Versailles ein «absoluter» König regierte, hatte England es leicht, sich als das Bollwerk der Freiheit in Europa darzustellen. Ein Frankreich hingegen, das als Vorkämpfer von Menschenrechten und Volkssouveränität auftrat, mußte England auf ungleich schärfere Weise herausfordern, als es die jungen Vereinigten Staaten von Amerika taten.[ 235 ]
3. Revolution und Expansion: 1789–1850
1789: Das Ende des Ancien régime und der Beginn der Französischen Revolution
«Die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Ethusiasm grenzt … Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte …»
Als Immanuel Kant im Jahre 1798 diese Sätze in seiner Schrift «Der Streit der Fakultäten» niederschrieb, hatte die Französische Revolution in Deutschland nicht mehr viele
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