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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Freunde. Kant gehörte zu der Minderheit, die noch immer die Ideen von 1789 gegen ihre Verächter verteidigte. Den Terror der Jakobiner in den Jahren 1793/94 zu rechtfertigen war dem Königsberger Philosophen nie in den Sinn gekommen. Aber er konnte in der Gewaltherrschaft, die er verurteilte, auch keine Widerlegung des «Idealischen» im Kampf um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sehen. Dieses «Idealische» hatte nach wie vor einen Anspruch auf teilnehmenden Enthusiasmus. Denn die Begebenheit von 1789 bewies einen «moralischen Charakter» des Menschengeschlechts «wenigstens in der Anlage …, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht».[ 1 ]
    Rund drei Jahrzehnte nach Kant nannte ein anderer deutscher Philosoph, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Französische Revolution in seinen Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte einen «herrlichen Sonnenaufgang». «Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt erst gekommen.»
    Um 1830/31, kurz vor seinem Tod, rief Hegel damit seinen Zuhörern ins Bewußtsein, was er und seine Freunde Hölderlin und Schelling als Studenten der evangelischen Theologie am Tübinger Stift empfunden hatten, als sie von der Erstürmung der Pariser Bastille durch aufgebrachte Pariser Massen, dem großen Ereignis des 14. Juli 1789, erfuhren. «Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der νοῦς (nūs: Geist, Gedanke, Vernunft, H.A.W.) die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle.»[ 2 ]
    Der Enthusiasmus, der Kant und Hegel erfüllte, war der des aufgeklärten Europa. Die Erstürmung der Bastille, des alten Staatsgefängnisses der Könige von Frankreich und Symbols des Ancien régime, galt den Freunden der Freiheit als Anfang vom Ende jedweder Art von absolutistischer Unterdrückung und Knebelung der Gedankenfreiheit, wo immer es dergleichen noch gab. Die Begeisterung für die Revolution der Franzosen wuchs noch, als die Nationalversammlung in der berühmten Nachtsitzung vom 4. August die Beseitigung des Feudalsystems, darunter der Steuerprivilegien, der persönlichen Gutsuntertänigkeit, der grundherrlichen Gerichtsbarkeit, der Jagd- und Fischereirechte des Adels, sowie die Abschaffung des Kirchenzehnten beschloß. Dem Beschluß vom 4. August folgte eine Woche später, am 11. August, das einschlägige Dekret, das mit den Worten begann: «Die Nationalversammlung zerstört das Feudalregime vollständig.»
    Das war zwar noch nicht das Ende aller Herrenrechte: Von den dinglichen Lasten, den seigneuralen Rechten an Grund und Boden, konnten sich nur die wohlhabenden Bauern befreien, die über das für die Entschädigung der Grundherren erforderliche Geld verfügten. Die Unruhe auf dem Lande, die in der zweiten Hälfte des Juli 1789, der Zeit der «großen Angst» (Grande Peur) Züge einer kollektiven Panik angenommen hatte, ebbte infolgedessen nur vorübergehend ab. Zu neuen Protesten kam es, als die Nationalversammlung durch ein Gesetz vom März 1790 den Verkauf der verbliebenen Herrenrechte durch Versteigerung ermöglichte, woraus vor allem die Bourgeoisie Nutzen zog. Dennoch war der Beschluß vom 4. August 1789 ein tiefer historischer Einschnitt: Der Bruch mit jahrhundertealten Vorrechten von Adel und Kirche war ein Signal, das in ganz Europa gehört wurde.[ 3 ]
    Drei Wochen nach der Abschaffung des Feudalsystems, am 26. August 1789, faßte die Nationalversammlung einen weiteren Beschluß von weltgeschichtlicher Bedeutung: Sie verabschiedete die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Das Vorbild Amerika war unübersehbar. Der erste Vorschlag, noch vor der Erarbeitung einer Verfassung eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu beschließen, kam von einem Abgeordneten der Nationalversammlung, der auf der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika im

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