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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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gekennzeichnete Mensch verloren ist, der rettende Weg über die väterliche Gewalt der frühen Patriarchen zur Bildung der bürgerlichen Gesellschaft oder des Staates». Die weitergehende Überlegung, daß auf Grund der Schwäche der menschlichen Natur reine Staatsformen eher für Entartungen anfällig seien als eine Mischverfassung, finden wir ebenfalls nicht erst bei Madison, sondern schon bei Althusius und Locke.[ 229 ]
    Das Menschenbild der Gründerväter war aber nicht nur das Ergebnis einer ausgedehnten Lektüre von Klassikern der Philosophie, des Staatsrechts und der politischen Theorie. Es hatte auch religiöse Wurzeln. Wenn die Unabhängigkeitserklärung von den unveräußerlichen Menschrechten sagte, sie seien den Menschen von ihrem Schöpfer (their Creator) verliehen worden, war das mehr als nur ein dem feierlichen Augenblick geschuldetes Credo, auf das sich aufgeklärte Deisten und gläubige Christen leicht verständigen konnten. Der Gottesbezug (den es in der Verfassung von 1787 nicht gab) drückte vielmehr auch die Einsicht in die theologische Vorgeschichte der Menschenrechte aus. Die Idee der persönlichen Würde jedes einzelnen Menschen hatte ihren Ursprung im jüdisch-christlichen Glauben an den einen Gott, der die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hatte. Das Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz setzte historisch den Glauben an die Gleichheit aller Menschen vor Gott voraus. Der Gedanke der Freiheit hatte sich nur entfalten können, weil es im Okzident die alte Tradition der Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt gab – eine Tradition, aus der in England und Nordamerika der Widerstand gegen das anglikanische (und jedes andere) Staatskirchentum erwuchs.
    In letzter Instanz beruhte diese für den Westen grundlegende Trennung darauf, daß Jesus selbst klar unterschieden hatte zwischen dem, was des Kaisers, und dem, was Gottes ist. Wenn er gegenüber Pontius Pilatus erklärte, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, erhöhte er damit die Verantwortung der Menschen für diese Welt.[ 230 ] Das Nein zur Vermengung von «dieser» und «jener» Welt, zur Verwischung des Unterschieds zwischen menschlichen und göttlichen Gesetzen, war, betrachtet man die langfristigen Wirkungen, ein Ja zur Emanzipation des Menschen und zur Säkularisierung der Welt. Die Erklärungen der Menschenrechte waren säkulare Dokumente, aber sie hatten einen theologischen Hintergrund: Die Werte, die sie proklamierten, waren säkularisierte christliche Werte.
    Diejenige Ausformung des Christentums, die den größten Anteil daran hatte, daß sich Amerika von Europa emanzipierte, war die protestantisch-reformierte im weitesten Sinn. Der britische Jurist und Historiker James Bryce zitierte 1888 in seinem «American Commonwealth» einen ungenannten Autor, der von der amerikanischen Verfassung behauptet hatte, sie stütze sich auf die Theologie von Calvin und die Philosophie von Hobbes. Bryce selbst urteilte, die Verfassung von 1787 sei nachhaltig von einer puritanischen Sicht der menschlichen Natur geprägt. Die Verfassung sei «das Werk von Menschen, die an die Erbsünde glaubten und entschlossen waren, für Missetäter keine Tür offen zu lassen, die sie, die Verfassungsväter, möglicherweise verschließen konnten. Das Ziel der Verfassung scheint es nicht so sehr zu sein, große gemeinsame Zwecke durch Sicherung einer guten Regierung zu erreichen, als die Übel abzuwenden, die nicht nur von einer schlechten Regierung, sondern von jeder Regierung herrühren, die stark genug ist, die schon bestehenden Gemeinschaften und die einzelnen Bürger zu bedrohen.»[ 231 ]
    Ähnlich urteilt der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr in seinem 1952 erschienenen Buch «The Irony of American History»: «Obwohl sich eine Menge von Illusionen über die Natur des Menschen in der amerikanischen Kultur niedergeschlagen hat, enthalten unsere politischen Einrichtungen doch viele jener Schutzvorkehrungen gegen den selbstsüchtigen Mißbrauch der Macht, auf denen unsere calvinistischen Vorfahren bestanden haben … Es ist besonders bemerkenswert, daß die zwei großen religiös-moralischen Traditionen, die unser frühes Leben geprägt haben – der Calvinismus Neu-Englands und der Deismus Virginias –, zu auffallend ähnlichen Schlußfolgerungen über die Bedeutung unseres Nationalcharakters und unserer Bestimmung gelangten. Der Calvinismus mag zu pessimistische Vorstellungen von der menschlichen Natur und zu mechanischen

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