Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
wurde die Nation betrachtet. Eine ausdrückliche Garantie der Vereinigungsfreiheit hätte das Bild der Einheitlichkeit gestört, die «volonté générale» durch die «volonté de tous» gefährdet. Die Nation und die Individuen standen sich also, ganz anders als im angelsächsischen politischen Denken und in den nordamerikanischen Verfassungen, unmittelbar und unvermittelt gegenüber.
Die Mehrheit der Nationalversammlung sah sich offenbar in der Rolle von Rousseaus «Gesetzgeber», der die öffentliche Aufklärung verkörperte und besser als das Volk wußte, was in dessen bestem Interesse lag. Diesem «ganzheitlichen» Ansatz widersprach nun freilich der Tribut an Montesquieu, das Bekenntnis zur Gewaltenteilung. Wie diese konkret aussehen, wie namentlich das Verhältnis von König und Nationalversammlung gestaltet werden sollte: das ließ die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte offen. Und vorläufig war sie auch nicht mehr als eine Proklamation von Prinzipien. Um aus diesen einklagbare Rechte für die Individuen zu machen, bedurfte es einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, und deren Stellung gegenüber den anderen Gewalten, der Legislative und der Exekutive, konnte nur die Verfassung regeln.
Als die Assemblée nationale ihre große Erklärung abgab, war sie in der wichtigsten politischen Frage, der Machtverteilung zwischen König und Nationalversammlung, bereits tief gespalten. Mit Artikel III des Beschlusses vom 26. August 1789 entzogen die Delegierten zwar «im Prinzip» dem Monarchen die Souveränität und übertrugen sie auf die Nation. Aber längst nicht alle Mitglieder der Nationalversammlung zogen daraus die Konsequenz, daß der König fortan nur noch zu vollziehen hatte, was die Legislative als Sprachrohr der Nation beschloß. Die «monarchiens» oder «Männer der Monarchie», an ihrer Spitze der Anwalt Jean-Joseph Mounier, bestanden auf dem uneingeschränkten Vetorecht des Monarchen gegen alle Entscheidungen der Nationalversammlung. Den «monarchiens» standen die «patriotes», angeführt vom Abbé Sieyès, gegenüber. Sie lehnten ein absolutes Veto des Königs strikt ab.
Ein Versuch Lafayettes, zwischen den Fronten zu vermitteln, war vergeblich. Erfolg hatte hingegen der Delegierte Joseph Barnave, ein glänzender Redner, mit einem Kompromißvorschlag, den er am 3. September unterbreitete: Der König sollte jeweils für die Dauer von zwei Legislaturperioden, das heißt von vier Jahren, ein aufschiebendes Veto haben. Nachdem die «monarchiens» ihr Einverständnis erklärt hatten, stimmte die Nationalversammlung am 11. September dem suspensiven Veto des Monarchen zu. Tags zuvor hatten sich die Delegierten mit großer Mehrheit gegen die Errichtung einer zweiten Kammer ausgesprochen.
Zu denen, die den Kompromiß vom 11. September ermöglicht hatten, gehörte auch Jacques Necker. Seine Entlassung am 11. Juli und die anschließende Ernennung hocharistokratischer Minister war ein Anlaß für den Sturm auf die Bastille drei Tage später gewesen. Am 16. Juli von Ludwig XVI. wieder in das Amt des leitenden Ministers berufen, unterstützte Necker im September auch die vordringlichste Forderung der «Patrioten»: Der König möge endlich die Beschlüsse vom 4. und 11. August, also die Abschaffung des Feudalsystems, durch offizielle Verkündung sanktionieren. Eben hiergegen sträubte sich der Monarch. Am 21. September erklärte er sich, nach mehrfacher Aufforderung durch die Nationalversammlung, zwar mit der Veröffentlichung der Dekrete einverstanden. Die Verkündung aber und damit die Inkraftsetzung verweigerte er unter Hinweis auf fehlende Ausführungsgesetze.
Die Obstruktion des Königs rief abermals, wie schon Mitte Juli, das Volk von Paris auf den Plan. Am 5. Oktober zogen Tausende von Menschen, vorneweg die legendären Fischweiber, aus der Hauptstadt zum königlichen Schloß nach Versailles, wo auch die Nationalversammlung tagte, um dem gekrönten Haupt ins Gesicht zu sagen, was sein Volk von ihm erwartete: nämlich Brot und Gehorsam gegenüber den Beschlüssen der Nationalversammlung.
Die revolutionäre Aktion wurde zum vollen Erfolg. Der König sah sich nunmehr genötigt, die Dekrete der Nationalversammlung, darunter auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in Kraft zu setzen. Tags darauf, am 6. Oktober, willigte er, nachdem die Demonstranten bereits in das Schloß eingedrungen waren und es auf beiden Seiten Tote gegeben hatte, auch in die brisanteste Forderung ein: Er begab sich
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