Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bereits in vollem Gange war. Die Praktiken Trothas, der zuvor in Deutsch-Ostafrika und beim «Boxeraufstand» in China Erfahrungen bei der Bekämpfung von Erhebungen Einheimischer gesammelt hatte, waren jedoch schon kein Tabubruch mehr. Sie unterschieden sich nur durch ihre kalte Systematik von den Methoden, mit denen der argentinische General und spätere Präsident Julio Argentino Roca im «Wüstenkrieg» der Jahre 1879 bis 1883 die Araukaner, das größte Indianervolk, weitgehend vernichtete, oder von der Art und Weise, wie der amerikanische Oberbefehlshaber Arthur MacArthur nach 1898 auf den Philippinen die Aufständischen bekämpfte, wobei er und viele seiner Offiziere und Soldaten die Indianerkämpfe im Westen der USA vor Augen hatten.
In Deutschland gab es massive Kritik am Vorgehen der Kolonialverwaltung unter Gouverneur Leutwein und der Schutztruppe unter Generalleutnant von Trotha. Infolgedessen stieß auch ein Antrag der Reichsleitung auf zusätzliche Mittel für die Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika im Dezember 1908 auf heftigen Widerspruch. Da sich nicht nur die Sozialdemokraten, die Welfen, Elsaß-Lothringer und Polen gegen den Antrag aussprachen, sondern, unter Einfluß seines linken Flügels um den württembergischen Abgeordneten Matthias Erzberger, auch das Zentrum, kam eine knappe Mehrheit gegen die Vorlage zustande.
Bülows Antwort war die Auflösung des Reichstags. Den anschließenden Wahlkampf führten die Regierung, die beiden konservativen Parteien, die Nationalliberalen und beide freisinnige Parteien mit nationalen Parolen und in gemeinsamer Frontstellung gegen Sozialdemokratie und Zentrum. Da sich die «nationalen» Kräfte bei den Stichwahlen gegenseitig unterstützten, errangen sie im zweiten Wahlgang der sogenannten «Hottentottenwahlen» am 5. Februar 1907 einen durchschlagenden Erfolg. Die Parteien des neuen liberal-konservativen «Bülow-Blocks» kamen auf 220, die kolonialkritischen Parteien nur auf 177 Sitze. Die eigentliche Verliererin war die SPD. Trotz leichter Stimmengewinne sank die Zahl ihrer Abgeordneten fast um die Hälfte – von 81 auf 44.
Durch den Pakt mit den «Kartellparteien» von 1887 hatten die Linksliberalen ihr taktisches Hauptziel erreicht: Die Entfernung des politischen Katholizismus aus dem Regierungslager. Die Brücke zwischen Liberalismus und Konservativismus bildete ein «nationaler» Minimalkonsens, der Sozialdemokratie und Zentrum bewußt ausschloß. Grundlage einer entschiedenen Reformpolitik aber konnte der Nationalismus nicht sein. Auch die wichtigste gesetzgeberische Leistung des «Bülow-Blockes», das Reichsvereinsgesetz vom April 1908, war ein Kompromiß. Aus liberaler Sicht war es ein Erfolg, daß die Befugnisse der Polizei bei der Auflösung von Versammlungen und Vereinen aufgehoben wurden, die meisten Beschränkungen für politische Vereine wegfielen, und Frauen und Jugendliche, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, nun endlich das Recht erhielten, Mitglieder politischer Vereine zu werden und an politischen Versammlungen teilzunehmen. Das Gesetz enthielt aber auch den umstrittenen «Sprachenparagraphen», der für öffentliche Veranstaltungen, mit Ausnahme von internationalen Kongressen, den Gebrauch der deutschen Sprache vorschrieb. Für gemischt nationale Gebiete mit überwiegend fremdsprachiger Bevölkerung, also namentlich für Posen, Nordschleswig und Teile von Elsaß-Lothringen, galt eine Übergangsregelung: Hier durfte noch zwanzig Jahre lang die Muttersprache gebraucht werden.
In die Zeit des «Bülow-Blocks» fiel die schwerste Krise des wilhelminischen Reiches: die «Daily-Telegraph-Affäre». Am 28. Oktober 1908 veröffentlichte der Londoner «Daily Telegraph» ein «Interview», tatsächlich eine Zusammenfassung von Gesprächen, die Wilhelm II. mit dem englischen Oberst Sir Edward James Stuart Wortley im Juli 1907 anläßlich seines Besuches in England und im September 1908 (inzwischen war Stuart Wortley zum General befördert worden) bei einem Kaisermanöver im Elsaß geführt hatte. Der Kaiser erklärte darin, daß er mit seiner englandfreundlichen Haltung zu einer Minderheit im eigenen Land gehöre; während des Krieges, den die Briten 1899 in Südafrika gegen die Buren führten, habe er ein Zusammengehen der Kontinentalmächte gegen England verhindert und der Queen Victoria, seiner «verehrten Großmutter», einen Feldzugsplan übersandt, den die Engländer dann offenbar
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