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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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weitgehend befolgt hätten; die deutsche Flotte schließlich, die England so errege, sei nur ein Mittel, um Deutschland weltweit, vor allem gegenüber China und Japan sowie im Stillen Ozean, Gehör zu verschaffen. «Vielleicht wird England sogar froh sein, daß Deutschland eine Flotte hat, wenn sie gemeinsam auf derselben Seite in den großen Debatten der Zukunft ihre Stimme erheben».
    Wilhelm II. hatte, die Vorschriften der Verfassung und den Dienstweg strikt einhaltend, den Wortlaut des Interviews vom ostpreußischen Rominten aus dem Reichskanzler zugesandt, der zur Kur auf Norderney weilte. Bülow leitete den Text nach offenbar nur oberflächlicher Lektüre an das Auswärtige Amt weiter, wo sich schließlich, in Abwesenheit des Staatssekretärs und des Pressechefs, ein nachgeordneter Beamter mit der Angelegenheit befaßte. Er verzichtete darauf, die Opportunität der kaiserlichen Äußerungen zu prüfen, und nahm lediglich kleinere Berichtigungen vor. Über den Unterstaatssekretär ging das Manuskript wieder an den Reichskanzler. Seinem eigenen, freilich nicht sehr glaubwürdigen Zeugnis nach las Bülow das Interview nicht und sandte es, mitsamt den von ihm übernommenen Korrekturen aus dem Auswärtigen Amt, an den Kaiser zurück, der es zur Veröffentlichung freigab.
    In Großbritannien wurden die Bekenntnisse, Unwahrheiten und Prahlereien des Kaisers eher mit Erheiterung aufgenommen. Die deutsche Öffentlichkeit aber reagierte empört und schockiert. Im Reichstag übten am 10. und 11. November alle Fraktionen von den Sozialdemokraten bis zu den Konservativen scharfe Kritik am Kaiser. Die eigentliche Sensation der parlamentarischen Debatte jedoch bestand darin, daß Bülow, der sein eigenes Versagen zu vertuschen verstand, erstmals eine öffentliche Mahnung an den Monarchen richtete. Er sei davon überzeugt, sagte der Reichskanzler, daß die Erfahrungen der letzten Tage den Kaiser dazu führen würden, «fernerhin auch in Privatgesprächen jene Zurückhaltung zu beobachten, die im Interesse einer einheitlichen Politik und für die Autorität der Krone gleich unentbehrlich ist. Wäre dem nicht so, so könnte weder ich noch einer meiner Nachfolger die Verantwortung tragen.»
    Durch bramarbasierende Wortwahl und politische Taktlosigkeiten hatte Wilhelm II. den Deutschen und der Welt schon mehrfach Anlaß geboten, an seiner politischen Urteilskraft und Reife zu zweifeln. Noch lebhaft in Erinnerung war die Bremerhavener Hunnenrede vom 27. Juli 1900 an die deutschen Truppen, die zur Niederschlagung des «Boxeraufstands» nach China aufbrachen. Darin hieß es, der Name «Deutschland» müsse in China in einer solchen Weise bekannt werden, «daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen … Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand.» Das Interview mit dem «Daily Telegraph» aber übertraf alles, was der Kaiser den Deutschen bisher zugemutet hatte. Sein Ansehen sank durch die Affäre vom Herbst 1908 so tief, daß er den Schaden nur noch durch eine öffentliche Demutsgeste und das Versprechen der Besserung begrenzen konnte. Am 17. November 1908 stimmte er nach einer Unterredung mit Bülow einer Verlautbarung zu, in der es hieß, er habe die Darlegungen und Erklärungen des Reichskanzlers «mit großem Ernste» entgegengenommen und erblicke seine vornehmste Aufgabe darin, «die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten zu sichern». Der Kaiser stimmte außerdem den Ausführungen des Kanzlers im Reichstag zu und versicherte Bülow seines fortdauernden Vertrauens.
    Entlassen konnte Wilhelm Bülow nach Lage der Dinge im Herbst 1908 nicht. Der Reichskanzler erhielt also die Gelegenheit, sich noch an der seit langem geplanten Reichsfinanzreform zu versuchen – und daran zu scheitern. Am 24. Juni 1909 brachten Deutschkonservative und Zentrum deren Kernstück, das Erbschaftsgesetz, mit der Begründung zu Fall, die Vorlage sei eigentums- und familienfeindlich. Die politischen Hinterabsichten waren bei beiden Parteien nicht schwer zu entschlüsseln: Das Zentrum hatte Bülows Rolle bei den «Hottentottenwahlen» nicht vergessen, und bei den Deutschkonservativen gab es eine ultraroyalistische Richtung um den westpreußischen Rittergutsbesitzer Elard von Oldenburg-Januschau, die den Kanzler seit der «Daily-Telegraph-Affäre» der Illoyalität gegenüber dem Kaiser

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