Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
bezichtigte.
Zwei Tage nach der Abstimmungsniederlage bat Bülow Wilhelm II. um seine Entlassung. Der Kaiser wollte den Eindruck vermeiden, als vollziehe er nur den Willen der Reichstagsmehrheit und willige damit in den faktischen Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie ein. Er ersuchte den Reichskanzler daher, noch bis zum Abschluß der parlamentarischen Beratungen über die anderen Finanzgesetze im Amt zu bleiben. Das tat Bülow. Seine Entlassung erfolgte zwei Tage nach der Annahme der restlichen Steuergesetze, am 14. Juli 1909. Zu seinem Nachfolger als Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und Außenminister ernannte Kaiser Wilhelm II. am gleichen Tag den Verwaltungsjuristen Theobald von Bethmann Hollweg, der seit 1907 das Reichsamt des Innern leitete.
Deutschland stand im Sommer 1909 nicht , wie man gelegentlich lesen kann, an der Schwelle zum parlamentarischen System. Die beiden Parteien, die Bülow gestürzt hatten, waren keine Befürworter eines solchen Regimewechsels. Die Deutschkonservativen lehnten eine Parlamentarisierung entschieden ab, und das Zentrum hatte von einer Politik wechselnder Zweckbündnisse so viele Vorteile, daß es nicht daran dachte, sich in die Abhängigkeit von formellen Koalitionen zu begeben. Die Freikonservativen und die Nationalliberalen wollten ebenfalls die konstitutionelle Regierungsweise erhalten wissen. Für die Parlamentarisierung traten die drei linksliberalen Parteien, die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die vor allem in Württemberg aktive Demokratische Volkspartei, ein, die sich 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammenschlossen. Weniger eindeutig war die Haltung der größten deutschen Partei, der Sozialdemokraten. Die Parlamentarisierung lag zwar auf der Linie der von ihnen erstrebten umfassenden Demokratisierung Deutschlands. Regierungsbündnisse mit bürgerlichen Parteien aber lehnten sie ab, weil eine solche Politik der Doktrin vom proletarischen Klassenkampf widersprach. Als Partner einer «sozialliberalen» Koalition kam die SPD daher vorerst nicht in Frage.
Einer Parlamentarisierung des Deutschen Reiches fehlte folglich eine wesentliche Voraussetzung: eine Reichstagsmehrheit, die aktiv auf ein derartiges System hinarbeitete und bereit war, dieses zu tragen. Doch selbst wenn eine solche Mehrheit vorhanden gewesen wäre, hätte der Bundesrat mit einer Sperrminorität von 14 Stimmen eine entsprechende Verfassungsänderung blockieren können. Ein preußisches Veto reichte mithin aus, um eine Parlamentarisierung zu verhindern. An der Haltung der Hohenzollerndynastie mit dem Kaiser und König an der Spitze, von Heer, Rittergutsbesitz und Ministerialbürokratie gab es nichts zu deuteln: Sie waren entschlossen, die Macht, die sie besaßen, zu verteidigen. Falls der Reichstag die Machtfrage wirklich stellen sollte, war mit schwersten inneren Auseinandersetzungen zu rechnen.
Vergleichbar schwere Konflikte waren zu erwarten, wenn sich die Gegner des preußischen Dreiklassenwahlrechts zusammentaten, um gemeinsam für die Einführung des Reichstagswahlrechts im größten deutschen Staat zu kämpfen. Die Sozialdemokraten, die sich 1908 zum dritten Mal an preußischen Landtagswahlen beteiligt und bei einem Stimmenanteil von 23,9 Prozent 1,6 Prozent der Sitze, nämlich 7 von 443, erhalten hatten, waren die entschiedensten Rufer im Streit um die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Preußen. Unterstützt wurden sie nur von den Linksliberalen. Verbissene Befürworter des geltenden Wahlrechts waren seine Hauptnutznießer, die Deutschkonservativen. (1908 kamen sie bei einem Stimmenanteil von 14 Prozent auf 34 Prozent der Mandate.) Das Zentrum schwankte zwischen dem Reichstagswahlrecht und einem besitzfreundlichen Pluralwahlrecht hin und her; bei den Nationalliberalen gab es Befürworter eines Pluralwahlrechts, nicht aber des allgemeinen gleichen Wahlrechts.
Gemessen am Dreiklassenwahlrecht war das Reichstagswahlrecht sehr fortschrittlich. Sein großer Mangel aber war offenkundig: Es galt nur für Männer. Die Sozialdemokraten waren die einzige Partei, die uneingeschränkt für das Frauenwahlrecht und auch sonst für die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern eintrat. Bei den Linksliberalen setzte sich eine Minderheit um den ehemaligen evangelischen Pfarrer Friedrich Naumann, den Gründer des Nationalliberalen Vereins, für die politische Gleichberechtigung der Frauen ein. Die
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