Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
verfügte, das Deutsche Reich in gefährliche Verwicklungen hineinzuziehen: Österreich-Ungarn. Im Zeichen der von Reichskanzler von Bülow propagierten «Politik der freien Hand» hatte sich Deutschland in eine bedrohliche Isolierung begeben. Der Schein der Machtsteigerung, in dem sich die wilhelminischen Deutschen sonnten, trog. Zwölf Jahre nach Bismarcks Sturz war das Reich verwundbarer als je zuvor, und es trug selbst die Verantwortung dafür, daß dem so war.
Zu Beginn der Kanzlerschaft Bernhard von Bülows im Oktober 1900 hatten viele Beobachter erwartet, nun werde das vielberedete «persönliche Regiment» Wilhelms II. eigentlich erst recht beginnen. Der geschmeidige Berufsdiplomat Bülow, der 1905 in den Fürstenstand erhoben wurde, galt als Intimus des Kaisers, und dieser sah im bisherigen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in der Tat sehr viel mehr «seinen» Kanzler, als er das bei Caprivi und Hohenlohe getan hatte. Doch es kam nicht nur auf den Monarchen an. Das Ministerialbeamtentum, das Militär und der Reichstag hatten ihre eigenen Interessen und zu viel Einfluß, als daß sich der Gedanke eines «persönlichen Regiments» des Kaisers hätte durchsetzen können – von Wilhelms fehlender Eignung als Staatslenker einmal ganz abgesehen.
Im Reichstag konnte sich Bülow bis Ende 1906 auf die beiden konservativen Fraktionen, die Nationalliberalen und das Zentrum, stützen. Das Zentrum stellte wie stets seit 1881 die stärkste Fraktion, wenn es bei den Wählerstimmen seit 1890 auch regelmäßig von den Sozialdemokraten übertroffen wurde. Ihre gouvernementale Haltung konnte die katholische Partei in der Ära Bülow vor allem mit der Sozialpolitik des Leiters des Reichsamts des Innern, Staatssekretär Graf Posadowsky-Wehner, rechtfertigen: Der Ausbau der Unfall- und der Krankenversicherung, das Verbot der Kinderarbeit auch in der Heimindustrie, die Förderung des Baus von Arbeiterwohnungen ließen die Zusammenarbeit mit der Rechten auch den Arbeiterwählern des Zentrums vertretbar erscheinen. Die Deutschkonservativen zogen aus der parlamentarischen Unterstützung des Kanzlers nicht nur den Nutzen höherer Getreidepreise in Gestalt des «Bülow-Tarifs» von 1902. Sie erreichten nach zähen parlamentarischen Kämpfen Anfang 1905 auch, daß das entscheidende Teilstück des Mittellandkanals zwischen der Elbe und Hannover nicht gebaut wurde. Es war der größte Triumph agrarischer Interessenpolitik im Kaiserreich: Die Mehrheit des Reichstags beugte sich dem Druck des ostelbischen Rittergutsbesitzes, dem es bei der Verhinderung des Kanalbaus ausschließlich darum ging, die Transportkosten für billigeres Getreide von der anderen Seite des Atlantiks, aus den USA, aus Kanada und Argentinien, so hoch wie möglich zu halten.
Außenpolitisch trieb Deutschland unter Bülow immer tiefer in die Selbstisolierung hinein. Durch den Bau der Bagdadbahn, bei dem die Deutsche Bank mit der französischen Banque Impériale Ottomane kooperierte, forderte das Deutsche Reich zwei am Mittleren Osten besonders interessierte Großmächte heraus: Großbritannien und Rußland. Die Bagdadbahn war ein Musterbeispiel des informellen Finanzimperialismus; das gewaltige Investitionsprojekt versprach dem, der es kontrollierte, Einfluß auf die Finanzen und die Politik des Osmanischen Reiches. Schon in der Anfangsphase des Unternehmens hatte Kaiser Wilhelm II. auf seiner zweiten Orientreise im November 1898 in Damaskus sich als Freund der 300 Millionen Mohammedaner auf der Erde bezeichnet (und kurz zuvor in Jerusalem eine Delegation der Zionisten unter Führung Theodor Herzls empfangen). Im Zuge der Bauarbeiten wurde die Haltung Großbritanniens immer ablehnender; die negative Haltung Londons floß mit ein in die noch zu erörternde Entscheidung, 1904 eine «Entente cordiale» mit Frankreich einzugehen.
Im Jahr darauf gab Deutschland England erstmals Gelegenheit, seinem neuen Verbündeten beizustehen. Im März 1905 landete Kaiser Wilhelm II. (auf Drängen Bülows und der «Grauen Eminenz» des Auswärtigen Amtes, des Geheimrats Friedrich von Holstein, und nicht aus eigener Neigung) in Tanger, um das wirtschaftliche und politische Interesse Deutschlands an Marokko zu unterstreichen. Hinter dem Besuch stand die Absicht, das seit langem in Marokko engagierte Frankreich entweder zu einem für Deutschland günstigen Zeitpunkt zum Krieg zu zwingen oder, besser, zum Beitritt zu einem von Deutschland angestrebten Kontinentalbund zu veranlassen.
Weitere Kostenlose Bücher