Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
jeher als Testamentsvollstrecker der Jakobiner fühlten. Der Triumph über die römische Kirche war unbestreitbar, und doch hätte das laizistische Frankreich Grund zu der Frage gehabt, ob der Ausgang des Kulturkampfs nicht auch Züge eines Pyrrhussieges trug. Daß der politische Katholizismus weiter nach rechts gedrängt wurde und der Herausbildung einer Partei der «christlichen Demokratie» dadurch auf lange Zeit ein unüberwindbares Hindernis entgegenstand, war jedenfalls kein Beitrag zur Festigung der Republik.
Der militante Antiklerikalismus oder Laizismus, der 1905 in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben wurde, ging überdies einher mit einer Verkürzung des historischen Horizonts. In einer politischen Kultur, die nur noch die Aufklärung und deren Vollzug in der Französischen Revolution als fortschrittlich gelten ließ, war kaum noch Platz für Reflexionen über das, was beides erst ermöglicht hatte: den freiheitlichen, subversiven, ja revolutionären Gehalt der ursprünglichen christlichen Botschaft. Die Trennung von Staat und Kirche lag in der Logik der Unterscheidung der Sphären von Gott und Kaiser: In ihr war die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen bereits angelegt. Die Form aber, in der die Trennung 1905 vollzogen wurde, war für beide Seiten mit Verlusten verbunden. An den Folgen dieser historischen Konfrontation trägt Frankreich noch heute.
Während die Kämpfe zwischen Staat und Kirche allmählich abflauten, nahmen die sozialen Kämpfe an Schärfe zu. Im Frühsommer 1907 scheiterte ein Versuch der Regierung Clemenceau, einen Aufstand südfranzösischer Winzer mit Hilfe des Militärs niederzuwerfen, daran, daß die Soldaten des eingesetzten Regiments sich den Protestaktionen anschlossen. Das Kabinett zeigte sich in diesem Fall kompromißbereit, in einem anderen aber demonstrierte es Härte: Auf Streiks der Volksschullehrer und Postangestellten antwortete die Regierung mit einem Streikverbot für Beamte. 1908 kam es zwischen streikenden Bau- und Industriearbeitern in der Region Paris und den von der Regierung eingesetzten Sicherheitskräften zu schweren Auseinandersetzungen, bei denen drei Arbeiter ums Leben kamen. Ein Aufruf der C.G.T. zum Generalstreik fand nicht den erhofften Widerhall, die Protestaktionen aber wurden noch militanter und ihre Unterdrückung noch blutiger. In der Deputiertenkammer griff Clemenceau die C.G.T. im Oktober 1908 massiv an und konnte sich dabei des Rückhalts seines gesamten Kabinetts erfreuen: Aristide Briand, ehedem ein Mitgründer der C.G.T. und entschiedener Befürworter des Generalstreiks als Waffe des Proletariats, seit Januar 1908 Justizminister, und René Viviani, früher ein enger Kampfgefährte von Jean Jaurès, jetzt Minister für Arbeit und Gesundheitspflege, stellten sich im Parlament demonstrativ auf die Seite des Ministerpräsidenten.
Im Juli 1909 stürzte Clemenceau wegen unvorsichtiger Enthüllungen über die Marokkokrise von 1905. Damit endete die Zeit des «Bloc des gauches», die 1902 mit dem Kabinett Combes begonnen hatte. Seine Nachfolge trat (auf Rat des Vorgängers) Briand an, der offiziell immer noch als «Unabhängiger Sozialist» firmierte (erst im Jahr darauf beteiligte er sich maßgeblich an der, Gründung einer neuen Partei, des Parti Republicain Socialiste, der, entgegen seinem Namen, eine Partei der linken Mitte war). «Sozial» war an der Politik des neuen Kabinetts nur ein Gesetz zu nennen, das eine Altersrente für Arbeiter einführte. Die Sozialisten forderte der neue Ministerpräsident durch einen Kurswechsel in der Frage des Wahlrechts heraus: Wie die S.F.I.O. hatten sich auch die Unabhängigen Sozialisten und Briand selbst für die Abschaffung des Mehrheitswahlrechts ausgesprochen, weil dieses das ländliche und kleinstädtische Frankreich auf Kosten der großen Städte und damit der Industriearbeiterschaft bevorzugte, während das Verhältniswahlrecht dem Wählerwillen sehr viel mehr entsprochen hätte. Da Briand aber von den Radicaux abhing und diese auf Grund ihres starken Rückhalts in Klein- und Mittelstädten Verfechter des Status quo waren, sorgte er dafür, daß alles beim Alten blieb.
Aus den Wahlen vom Frühjahr 1910 gingen die Radicaux erneut als Sieger hervor. Sie wurden im Parlament allerdings dadurch geschwächt, daß sich in der Deputiertenkammer im Juli 1910 erstmals formelle Fraktionen bildeten und 112 der insgesamt 261 radikalen Abgeordneten, durchweg Vertreter des gemäßigten
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