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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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wohl bemerkt, daß das Wahlverhalten der Elsaß-Lothringer seit 1890 nur einen Schluß zuließ: Die große Mehrheit strebte nicht mehr die Wiedervereinigung mit Frankreich, sondern einen Status vollständiger Gleichberechtigung im Deutschen Reich an. Vor diesem Hintergrund war eine Politik der Konfrontation mit Deutschland, wie Delcassé sie betrieb, sehr viel weniger populär, als ihr Urheber meinte. Rouvier setzte sich denn auch nicht der Gefahr der eigenen Entmachtung aus, als er den Außenminister auf dem Höhepunkt der Marokkokrise entließ.
    Im September 1905 schloß Rouvier ein Geheimabkommen mit Berlin, in dem er der deutschen Forderung nach einer internationalen Konferenz über Marokko zustimmte und Frankreich dafür Sonderrechte in dem an Algerien grenzenden östlichen Teil des unabhängigen Scheriffats sicherte. Auf das deutsche Ansinnen, einem antienglischen Kontinentalbund beizutreten, ließ sich der Pariser Regierungschef aber nicht ein. Als im April 1906 die Konferenz in Algeciras ihre Arbeit abschloß, war Rouvier schon nicht mehr im Amt: Am 7. März hatte er im Zusammenhang mit der gewaltsamen Eskalation des Konflikts zwischen Staat und Kirche zurücktreten müssen. Unter seinem Nachfolger Sarrien gewann wieder die entschieden proenglische und antideutsche Richtung der französischen Politik die überhand. Zu ihren prominenten Vertretern innerhalb der Regierung gehörten Außenminister Léon Bourgeois, Innenminister Clemenceau, Finanzminister Poincaré und der Minister für öffentliche Arbeiten Louis Barthou. Die Isolierung Deutschlands in Algeciras war im wesentlichen ein Ergebnis des geschickten Zusammenspiels des neuen Pariser Kabinetts mit der neuen liberalen Regierung in London unter Campbell-Bannerman mit Sir Edward Grey als Außenminister.
    Fünf Jahre später, im April 1911, lösten bürgerkriegsartige Unruhen in Marokko die zweite Marokkokrise aus. Angesichts der Belagerung der Hauptstadt Fez durch die von seinem Bruder geführten Aufständischen, bat der Sultan von Marokko, Mulay Hafid, Frankreich um Hilfe, woraufhin französische Truppen mit der Begründung, es gelte die Europäer zu schützen, Fez und Rabat besetzten. Deutschland, das in einem Abkommen vom Februar 1909 das französische Interesse an Marokko ausdrücklich anerkannt hatte, protestierte unter Hinweis auf die Algeciras-Akte, mit der das Pariser Vorgehen nicht vereinbar sei. Um seinem Einspruch Nachdruck zu verleihen, ordnete Berlin den legendären «Panthersprung» an: die dem amerikanischen Vorgehen beim «Riff incident» von 1904 nachempfundene Landung des Kriegsschiffs «Panther» in Agadir am 1. Juli 1911. Hinter der wilhelminischen Form von Kanonenbootdiplomatie stand die taktische Absicht des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Alfred von Kiderlen-Wächter, Frankreich zu einer Kompensation zu bewegen: der Abtretung des französischen Kongo, der den Kern eines künftigen deutschen Kolonialreichs in Mittelafrika bilden sollte.
    Das internationale Echo war für Deutschland verheerend. Großbritannien stellte sich unverzüglich auf die Seite seines bedrohten Ententepartners. In Absprache mit Premierminister Asquith und Außenminister Grey warnte Schatzkanzler Lloyd George am 21. Juli in einer Rede im Mansion House Deutschland, daß Großbritannien seine Friedensliebe nicht bis zu dem Punkt treiben werde, wo der Preis «eine Demütigung wäre – unerträglich für ein großes Land wie das unsere». Damit stand der einen Kriegsdrohung, der deutschen, eine britische gegenüber. Daß sie ernst gemeint war, unterstrich die Ausarbeitung eines gemeinsamen Aufmarschplans für den Fall eines Kriegs mit Deutschland durch den englischen und den französischen Generalstab. Darin war der sofortige Einsatz der britischen Armee vorgesehen.
    Paris sah unter diesen Umständen keinen Grund, der deutschen Pression, dem Verlangen nach der Abtretung von Französisch-Kongo, nachzugeben. Kiderlen-Wächter hingegen entschloß sich, die deutschen Kompensationsforderungen erheblich abzuschwächen. In Geheimverhandlungen mit dem verständigungsbereiten Ministerpräsidenten Caillaux, die unter Umgehung des Quai d’Orsay geführt wurden, erklärte sich Deutschland mit der Errichtung eines französischen Protektorats über Marokko einverstanden. Die französische Gegengabe war vergleichsweise bescheiden: In Marokko sicherte Paris Berlin die wirtschaftliche Meistbegünstigung zu; Deutsch-Kamerun wurde im Osten und Süden durch (wirtschaftlich

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