Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Office, könnte mäßigend auf das mit ihm verbündete Rußland einwirken. Als Botschafter des guten Willens stellte sich gern der frankophile König Edward VII. zur Verfügung, der Frankreich im Mai 1903 einen Staatsbesuch abstattete. Der Gegenbesuch von Präsident Loubet fand bereits zwei Monate später statt.
Den Krieg ihrer jeweiligen Bündnispartner Japan und Rußland zu verhindern gelang den beiden Mächten zu Beginn des Jahres 1904 nicht. Um so mehr lag ihnen daran, nicht in den Konflikt in Ostasien hineingezogen zu werden. Auch darum erschien ihnen eine verbindliche Abgrenzung ihrer beiderseitigen Einflußsphären in allen Teilen der Welt, im Pazifik, an der Westküste Kanadas, in Afrika und Südostasien, überfällig. Die Entente cordiale, die am 8. April 1904 unterzeichnet wurde, hatte den Zweck, diese Klärung ein für allemal herbeizuführen. Was den veröffentlichten Text anging, war die Verständigung über Siam, das heutige Thailand, der wohl wichtigste Teil des Vertrages: Das Königreich sollte als Pufferzone zwischen Französisch-Indochina und (dem 1886 Britisch-Indien einverleibten) Birma neutral bleiben.
Die Hauptsache aber stand in einem streng geheimen Zusatzabkommen: Frankreich erkannte die britische Herrschaft über Ägypten an, die London 1882 unter Verletzung französischer Interessen errichtet hatte; Großbritannien gab dafür Frankreich freie Hand, falls dieses sich entschließen sollte, Marokko zu erobern. Eine Ermächtigung zur Führung eines Angriffskrieges in Europa ließ sich weder aus dem Haupttext der Entente cordiale noch aus dem Zusatzabkommen herauslesen. Aber Frankreich hatte jetzt außer Rußland und, bedingt, Italien einen weiteren Vertragspartner, und das stärkte seine Position gegenüber Deutschland, das im Ernstfall nur mit der Unterstützung des von Krisen geschüttelten Österreich-Ungarn rechnen konnte. Für Großbritannien galt Entsprechendes: Es konnte sich seit dem April 1904 gegenüber der deutschen Flottenrüstung sicherer fühlen als zuvor.
Mit Blick auf Nordafrika verbuchte Delcassé im Jahr 1904 noch einen weiteren Erfolg: Im Oktober verständigten sich Frankreich und Spanien auf eine Abgrenzung ihrer Interessensphären in Marokko. Spanien besaß dort seit Ende des 16. Jahrhunderts an der Nordküste die Exklaven Ceuta und Melilla. Der Vertrag mit Paris sprach Madrid für den Fall einer Eroberung Marokkos fast den gesamten küstennahen Norden zu; im Gegenzug erklärte sich Spanien damit einverstanden, daß Frankreich sich das übrige Marokko, den Hauptteil also, aneignete. Daß Spanien den Nordteil Marokkos kontrollierte, fand auch die Zustimmung Großbritanniens: London wollte verhindern, daß Frankreich sich in unmittelbarer Nähe Gibraltars festsetzte; gegen eine spanische Herrschaft über dieses Gebiet gab es keine britischen Einwände.
Als Deutschland im März 1905 durch den Blitzbesuch Wilhelms II. in Tanger die (erste) Marokkokrise auslöste, bewährte sich die Entente cordiale auch in der Praxis: Großbritannien stand (wenn auch nur diplomatisch und nicht etwa militärisch) zu seinem Vertragspartner und trug entscheidend dazu bei, daß das Deutsche Reich auf der Konferenz von Algeciras von Januar bis April 1906 völlig isoliert war. Delcassé war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr im Amt: Ministerpräsident Rouvier hielt das Spiel seines Außenministers für so gefährlich, daß er mit dem deutschen Botschafter gegen ihn konspirierte und diesem sogar die Entlassung Delcassés versprach. Am 6. Juni 1905 wurde die Zusage eingelöst, wobei Rouvier selbst das Amt des Außenministers übernahm.
Der Sturz Delcassés wirft ein Schlaglicht auf den damaligen Stand des französischen Verhältnisses zu Deutschland: Der bisherige Außenminister hielt, das Ziel der Rückgewinnung von Elsaß-Lothringen vor Augen, einen Krieg mit Deutschland für letztlich unvermeidbar; Rouvier hingegen glaubte nicht an eine solche Zwangsläufigkeit und lehnte daher die geradezu «wilhelminisch» anmutende Risikopolitik des Chefs des Quai d’Orsay in der Marokkokrise ab. Der Ministerpräsident wußte dabei einen großen Teil der Franzosen hinter sich: Die deutsche Annexion von Elsaß-Lothringen galt zwar nach wie vor als Unrecht und sie schmerzte noch immer, aber die jüngere Generation war deutlich weniger «revanchistisch» eingestellt als die ältere und von der Notwendigkeit eines Krieges mit dem Nachbarn im Osten nicht überzeugt. Außerdem hatte man in Frankreich sehr
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