Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
mitsamt der Königin Marie Antoinette und dem Dauphin nach Paris. Die Nationalversammlung verlegte ihren Tagungsort ebenfalls in die Hauptstadt. Der 6. Oktober 1789 markiert einen entscheidenden Wendepunkt: Die Kapitulation Ludwigs XVI. war die endgültige Niederlage des französischen Absolutismus. In den Pariser Tuilerien stand der König unter dem ständigen Druck der hauptstädtischen Massen. Er war, ob er es wahrhaben wollte oder nicht, fortan kein freier Mann mehr.
Die französischen Historiker François Furet und Denis Richet haben von den drei Revolutionen des Jahres 1789 gesprochen: der Revolution der Abgeordneten, der Revolution der städtischen Massen und der Revolution auf dem Lande. Jede dieser Revolutionen hatte ihre eigenen «Gesetze», aber es waren keine getrennten Revolutionen, sondern Teilrevolutionen, die sich gegenseitig verstärkten. Die Bewegung der städtischen und ländlichen Massen hatte den Vertretern des Dritten Standes den Kampfgeist und den Rückhalt gegeben, die sie brauchten, um ihre revolutionären Beschlüsse zu fassen: von der Konstituierung zur Nationalversammlung im Juni bis zu den Dekreten vom August 1789. Die Entscheidungen der Delegierten wiederum ermutigten das städtische Kleinbürgertum und die Bauern, mehr zu verlangen als das, was ihnen bisher zugestanden worden war. Den Bruch mit dem Ancien régime zu verkünden war eines, ihn konsequent zu vollziehen ein anderes. Nicht nur der König, auch die Nationalversammlung stand seit ihrem Umzug von Versailles nach Paris unter verstärktem Druck. Sie mußte sich mehr als bisher um den Nachweis bemühen, daß sie auch für das «einfache Volk» sprach.[ 5 ]
Radikalisierung (I): Von der konstitutionellen Monarchie zur Republik
Mit der Entscheidung über das Einkammersystem und das suspensive Veto des Königs hatte sich die Nationalversammlung im September 1789 bereits als Konstituante betätigt. In der Folgezeit war sie immer wieder beides: zum einen Verfassunggeber, zum anderen gesetzgebende Körperschaft. Als sie am 2. November 1789 den Beschluß über die Verstaatlichung der Kirchengüter faßte, war das ein Akt revolutionärer Gesetzgebung. Durch den Verkauf der enteigneten Kirchengüter wollte sich der hochverschuldete, vom Bankrott bedrohte Staat finanziell sanieren. Die Güter dienten als Pfand für die sogenannten Assignaten: verzinsliche Schatzanweisungen, die nicht in Geld, sondern in Landbesitz rückzahlbar sein sollten. Da der erhoffte Erfolg nicht eintrat, verwandelte die Nationalversammlung die Assignaten im August 1790 in ein unverzinsliches Zahlungsmittel, also Papiergeld, das an den Wert der enteigneten Ländereien gebunden war. Die neuen «Nationalgüter» wurden aufgrund eines Dekrets vom 9. Juli schuldenfrei zum Verkauf angeboten, wobei die Besitzer von Assignaten gewisse Privilegien genossen. Kurzfristig bewirkten die Maßnahmen vom Sommer 1790 eine kräftige Belebung der Wirtschaft, mittelfristig eine Inflation, die schon im Frühjahr 1791 einsetzte, langfristig eine gewaltige Umschichtung der Besitzverhältnisse, von der in erster Linie die städtische Bourgeoisie profitierte.
Für die katholische Kirche bedeutete der Einzug ihrer Güter, daß sie über keine Mittel mehr verfügte, um ihre überkommenen Aufgaben zu erfüllen, und auch die Priester nicht mehr bezahlen konnte. Die Besoldung des kirchlichen Personals durch den Staat war die einzige Entschädigung, die der Kirche zuteil wurde. Am 12. Juli 1790 faßte die Nationalversammlung einen weiteren kirchenfeindlichen Beschluß: Sie verabschiedete die Zivilkonstitution für den Klerus. Diese sah vor, daß die Geistlichen durch Wahlversammlungen in den neu geschaffenen Verwaltungseinheiten gewählt wurden: die Gemeindepfarrer auf der Ebene des Distrikts, die Bischöfe auf der des Departements. Dem Papst stand fortan keinerlei Gerichtsbarkeit mehr in Frankreich zu; die neugewählten Bischöfe mußten ihn lediglich von ihrer Wahl in Kenntnis setzen.
Als der König in Abstimmung mit Papst Pius VI. seine Unterschrift unter die Zivilkonstitution hinauszögerte, holte die Nationalversammlung am 27. November 1790 zum nächsten Schlag aus: Sie verlangte von allen Beamten, auch den Priestern, einen Treueid auf die (noch gar nicht verabschiedete) Verfassung, einschließlich der Zivilkonstitution; Priester, die den Eid verweigerten, waren durch neue zu ersetzen. Ludwig XVI. unterschrieb das Dekret zwar widerstrebend, war aber zu diesem Zeitpunkt bereits
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