Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
entschlossen, weitere Demütigungen durch die Nationalversammlung nicht mehr hinzunehmen und notfalls aus Paris zu fliehen.
Pius VI. beantwortete die Herausforderung des revolutionären Frankreich im Frühjahr 1791 mit einer Verurteilung nicht nur der Zivilkonstitution, sondern der Prinzipien der Revolution. Damit ging, wie Ernst Schulin bemerkt, die «erste ‹außenpolitische› Kampfansage an die Revolution» vom Papst aus. Das Oberhaupt der katholischen Kirche stärkte durch dieses entschiedene Auftreten den vielen Geistlichen den Rücken, die sich dem neuen Regime nicht fügen wollten. Von den Priestern verweigerte mehr als die Hälfte den geforderten Loyalitätseid; von den 133 Bischöfen taten dies alle bis auf vier.
Zur kleinen Minderheit des hohen Klerus gehörte Charles Maurice Talleyrand, Bischof von Autun und Mitglied der Nationalversammlung. Er hatte am 10. Oktober 1789 als erster prominenter Kleriker die Einziehung der Kirchengüter zwecks Tilgung der Staatsschulden gefordert und am 14. Juli 1790, dem ersten Jahrestag des Bastillesturms, beim Fest der Föderation auf dem Marsfeld die Messe mit 200 Priestern zelebriert, deren Meßgewänder ein Gürtel in den blau-weiß-roten Farben der revolutionären Trikolore zierte, und den Eid auf die Nation, das Gesetz und den König gesprochen. Seinen Eid auf die Zivilkonstitution ahndete der Papst mit der schwersten Sanktion, die der Kurie zur Verfügung stand: Talleyrand wurde mit dem Kirchenbann belegt. Die französische Gesellschaft war ähnlich gespalten wie der niedere Klerus: Es gab konservative Regionen wie die Vendée und die Bretagne, wo sich die «alten», eidverweigernden Priester breiter Unterstützung durch die Gläubigen erfreuten, und andere Gebiete, zumal im Süden Frankreichs, wo die neue Staatskirche und ihre Diener, die «konstitutionellen Priester», widerspruchslos hingenommen wurden.
In der Nationalversammlung hatte es über die Entmachtung, ja Ausschaltung der katholischen Kirche heftige Debatten gegeben, aber die Mehrheitsverhältnisse waren eindeutig: Für die Nationalisierung der Kirchengüter stimmten am 2. November 1789 568 Delegierte, dagegen 346. Ungleich knapper war am 22. Dezember 1789 der Ausgang der Abstimmung über eine Kernfrage der Verfassung: das Wahlrecht. Mit 453 gegen 443 Stimmen beschloß die Nationalversammlung die Einführung eines Zensuswahlrechts. Aktivbürger, die in den Genuß des aktiven Wahlrechts kamen, waren mindestens 25 Jahre alte Männer, die eine direkte Steuer im Wert von wenigstens drei Arbeitstagen oder 2 bis 6 Livres jährlich zahlten. Aktives Wahlrecht hieß: das Recht, Wahlmänner zu wählen, die ihrerseits Steuerleistungen von mindestens 10 Arbeitstagen oder 7 bis 10 Livres jährlich erbrachten. Die Abgeordneten mußten über Grundbesitz verfügen und Steuern von wenigstens 50 Livres zahlen. Von 25 Millionen Franzosen besaßen nach diesen Bestimmungen 4,3 Millionen das aktive Wahlrecht; nach manchen Schätzungen waren das immerhin zwei Drittel aller männlichen Franzosen über 25 Jahre. Die Zahl der Wahlmänner belief sich auf 50.000.
Die Begünstigung der wohlhabenden Bürger war gewollt und rief leidenschaftlichen Protest in einem Teil der Presse, bei den radikaleren Delegierten und den sie stützenden politischen Clubs der Hauptstadt hervor. Der Widerspruch zwischen dem Zensuswahlrecht und dem Gleichheitsversprechen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte war offenkundig, und ebendies wurde zum Hauptargument der Kritiker in einer Kampagne, die mit der Entscheidung der Nationalversammlung nicht zu Ende war.
In Umrissen zeichnete sich damit bereits seit der Jahreswende 1789/90 jene politische Polarisierung zwischen Gemäßigten und Radikalen ab, die für den weiteren Verlauf der Revolution bestimmend werden sollte. Einer der Wortführer der Opposition gegen das Zensuswahlrecht war der Delegierte Maximilien de Robespierre, Anwalt aus Arras und einer der maßgeblichen Männer des Jakobinerclubs, der seinen Namen dem Tagungsort, dem ehemaligen Dominikanerkloster Saint-Jacques in Paris, verdankte. Im April 1791 ließ Robespierre eine Rede drucken, in der er sich für das allgemeine Stimmrecht aussprach und das gerechte, dem Allgemeinwohl verpflichtete, einfache Volk den egoistischen, nur an ihren privaten Interessen interessierten Reichen gegenüberstellte. Das Echo auf die Flugschrift war gewaltig und legte den Grund für die wachsende Popularität ihres Autors.[ 6 ]
Zu den Beschlüssen der
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