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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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mit dem Fronleichnamsanschlag zum Tode verurteilt worden waren.
    Eine tiefe Zäsur in der spanischen Geschichte bildete 1898 die Niederlage im Krieg mit den Vereinigten Staaten. Jüngere Intellektuelle, die man die «Generation von 1898» nannte, versetzten das Restaurationsregime auf die moralische Anklagebank. Der Philosoph Miguel Unamuno nannte das Parlament eine «Kathedrale der Lüge». Die Modernisierung, die er und seine Gesinnungsfreunde forderten, sollte Spanien europäischer machen, zugleich aber das große geistige Erbe Spaniens bewahren. In Katalonien erhielt die Autonomiebewegung Auftrieb, die im katastrophalen Ausgang des Krieges einen Zusammenbruch Kastiliens sah; 1901 schloß sie sich unter Enric Prat de la Riba in der Lliga Regionalista de Catalunya zusammen. Auf der äußersten Rechten wurden die Karlisten erneut aktiv; ihren Hauptrückhalt hatten sie in Navarra. Auf der äußersten Linken stand Alejandro Lerroux von der Unión Republicana: 1908 gründete er in Barcelona eine Radikalsozialistische Republikanische Partei, den Partido Republicano Radical Socialista, der die Arbeiter Kataloniens zu gewaltsamen Aktionen und zur permanenten Revolution aufrief. An die ebenfalls von ihm gegründete Organisation der Jungrepublikaner, die er als «jóvenes bárbaros», als junge Barbaren, ansprach, ließ er einen Aufruf im Stil des nihilistischen Anarchismus ergehen: «Vorwärts! Vorwärts! … Es gibt nichts Heiliges auf der Erde. Das Volk ist ein Sklave der Kirche. Man muß die Kirche vernichten. Jungen, drauf und dran! Kämpft, mordet, sterbt!»
    Es blieb nicht bei Worten. Am 26. Juli 1909 wurde in Barcelona der Generalstreik ausgerufen; hier wie in anderen Städten Kataloniens folgten die Arbeiter dem Appell. In anderen Orten kam es zur Proklamation der Republik. In Barcelona wurden Barrikaden errichtet, Waffengeschäfte geplündert, die Stromversorgung unterbrochen, Brücken und Eisenbahnanlagen gesprengt. Im Verlauf der «tragischen Woche» (semana trágica) brannten aufständische Anarchisten Klöster, Kirchen und kirchliche Schulen nieder; sie erschossen fliehende Nonnen und Mönche und schändeten ihre Leichen. Die Regierung mußte zusätzliche Truppen aus Valencia und anderen Städten einsetzen, um die Ordnung in Barcelona wiederherzustellen. Die Zahl der Menschen, die bei diesen Kämpfen ums Leben kamen, soll sich auf über 100 belaufen haben. Als angeblicher Urheber der «semana trágica» wurde der antiklerikale Reformpädagoge Francisco Ferrer Guardia trotz lebhafter Proteste in vielen Ländern der Erde zum Tode verurteilt und ebenso wie viele andere Verurteilte im Oktober 1909 hingerichtet.
    Die unmittelbare Ursache der anarchistischen Revolte war die Einberufung von Reservisten gewesen, die im nördlichen Teil Marokkos – dem Teil des Scheriffats, der nach dem Abkommen mit Frankreich von 1904 die spanische Interessensphäre bildete – einen Aufstand der Rifkabylen niederkämpfen sollten. Die katalonischen Arbeiter sahen im Kolonialkrieg einen imperialistischen Klassenkrieg; der Generalstreik war vor allem anderen ein Versuch, den Krieg zu beenden. Dieses Ziel wurde ebensowenig erreicht wie der Sturz der Monarchie und die Ausschaltung der Kirche. Nachdem Spanien im Herbst 1911 sein Protektorat über den nördlichen Küstenstreifen Marokkos errichtet hatte, weitete sich der Kolonialkrieg noch aus.
    Im Herbst 1909 schien Spanien unmittelbar vor der Errichtung einer Diktatur zu stehen. Der konservative Ministerpräsident der Jahre 1907 bis 1909, Antonio Maura, arbeitete auf eine «Revolution von oben» hin, die mit diktatorischen Mitteln die notwendigen Reformen durchführen sollte. Er scheiterte am König, der ihm am 21. Oktober 1909 das Vertrauen entzog. Die Krise des parlamentarischen Systems verschärfte sich in der Folgezeit: Zwischen 1902 und 1907 gab es zehn Ministerpräsidenten, fünf konservative und vier liberale; zwischen 1909 und 1923 erlebte Spanien 19 Regierungschefs. Im September 1923 putschte im Zusammenhang mit einem neuen Aufstand der Rifkabylen das Militär in Barcelona und brachte den General Miguel Primo de Rivera an die Macht. Er errichtete eine Diktatur – die erste spanische Diktatur des 20. Jahrhunderts.
    Noch chaotischer verlief die Entwicklung im westlichen Nachbarland Portugal, das im Hinblick auf die industrielle Entwicklung und die Volksbildung noch rückständiger war als Spanien. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Portugal ein noch ganz überwiegend agrarisch

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