Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Logik in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in eine autoritäre Diktatur mündete.
Nur in einem Punkt schien es einen Konsens zwischen den zerstrittenen Lagern zu geben: Das Kolonialreich sollte bewahrt werden. Daß es bestehen blieb, verdankte Portugal aber nicht nur seiner Militärpräsenz in Afrika, sondern Veränderungen im deutsch-britischen Verhältnis. Im Juli 1913 hatten sich Berlin und London für den Fall eines finanziellen Zusammenbruchs Portugals darauf verständigt, den portugiesischen Kolonialbesitz in Afrika untereinander aufzuteilen, wobei Moçambique englisches und Angola deutsches Interessengebiet werden sollte. Doch es blieb beim Vertragsentwurf: Großbritannien bestand auf einer Veröffentlichung der Vereinbarung, worauf Deutschland sich nicht einlassen wollte. Ein Jahr später war die Absprache ohnehin nur noch Makulatur: Die Julikrise von 1914 durchkreuzte alle Planungen für ein deutsch-britisches Vorgehen in Afrika.
Mehr noch als in Italien trat in den beiden iberischen Ländern Spanien und Portugal im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Allianz von Kräften auf den Plan, die dem Durchbruch der Moderne zähen Widerstand entgegensetzten. Die Großgrundbesitzer konnten sich der Unterstützung der katholischen Kirche und von Teilen der bewaffneten Macht und des zivilen Staatsapparates sicher sein, wenn sie Forderungen nach einer Bodenreform zurückwiesen und Front gegen alle machten, die die überlieferte, hierarchisch gegliederte Ordnung zugunsten einer egalitären Gesellschaft überwinden wollten. Der archaische Charakter der Latifundienwirtschaft fand sein Gegenstück in den archaischen Formen des Widerstandes gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse: Der gewollte Mangel an Volksbildung rächte sich in Gestalt des primitiven Terrors, mit dem Teile der weithin analphabetischen Unterschicht auf die alltägliche Gewalt von oben antworteten.
In den katholischen Ländern des Mittelmeerraumes hatte der Staat sein Gewaltmonopol in viel geringerem Maß durchsetzen können als in den mehr oder minder protestantisch geprägten Ländern West-, Nord- und Mitteleuropas. Damit fehlte hier eine wichtige Vorbedingung für das Gelingen eines anderen Modernisierungsprozesses: der Erneuerung der gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen im Zuge der Industrialisierung. Da diese Erneuerung nur unzureichend stattfand, fehlte es an Möglichkeiten, das Verlangen der Unterschichten nach politischer Teilhabe im Rahmen des bestehenden Systems, also evolutionär, zu befriedigen. Die Einführung eines parlamentarischen Systems reichte nicht aus, um dem gewaltsamen Protest den Boden zu entziehen. Die Neigung zum anarchistischen Radikalismus saß tief. Sie wäre vermutlich weniger stark gewesen, hätten die katholische Kirche und die mit ihr verbündeten alten Eliten nicht so viel Erfolg bei ihrem Bemühen gehabt, die Aufklärung und alle neuen Ideen des Westens von den Ländern der Pyrenäenhalbinsel fernzuhalten.
Im schärfsten Kontrast zu den iberischen standen die skandinavischen Länder. Auch sie waren, verglichen mit England und Deutschland, Nachzügler des Industrialisierungsprozesses. Um die Jahrhundertwende lebten die meisten Dänen, Schweden und Norweger noch von der Landwirtschaft oder Fischerei. Infolge verbreiteter Armut und fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten im Inland verloren Schweden und Norwegen in großer Zahl Menschen durch Auswanderung in die Vereinigten Staaten und andere Teile der Neuen Welt. Die nordischen Länder kannten jedoch, anders als Spanien und Portugal, nicht die Probleme eines massenhaften Analphabetismus und des gewaltsamen Anarchismus. Die lutherischen Staatskirchen waren konservativ, aber im Gegensatz zu Preußen-Deutschland wurden sie kein Teil eines autoritären Herrschaftskartells: Die skandinavischen Königreiche waren keine Militärmonarchien und die adligen Grundbesitzer keine ostelbischen Junker.
In den nordischen Staaten gab es ein freies Bauerntum, das der politischen Entwicklung mehr als irgendwo sonst in Europa seinen Stempel aufzudrücken vermochte. Die Landwirtschaft, allem voran die dänische, stellte sich der Herausforderung der neuen Zeit, indem sie vom Getreideanbau zu einer exportorientierten Veredelungswirtschaft überging, in der Viehzucht und Molkereiprodukte einen prominenten Platz einnahmen. In analoger Richtung entwickelte sich die Fischerei, die, ebenso wie die Landwirtschaft, ihre eigene Industrie hervorbrachte.
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