Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Sozialistische Partei unter maßgeblicher Beteiligung Mussolinis zum Anlaß nahm, die Arbeiter zum unbefristeten Generalstreik und zur Konfrontation mit dem Staat aufzurufen. Die Arbeiter und selbst die Gewerkschaften folgten dem Appell nur zögerlich, die Regierung Salandra aber, von derselben Revolutionsfurcht erfaßt wie das konservative Italien, bot 100.000 Mann auf, um die Ordnung in den Unruhegebieten wiederherzustellen, was innerhalb weniger Tage auch gelang.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die Öffnung nach links, um die Giolitti sich in den vergangenen Jahren bemüht hatte, gescheitert war, erbrachte ihn die «settimana rossa». Italien war am Vorabend des Ersten Weltkrieges sozial nicht geeinter als zu Beginn der Ära Giolitti. Der Libyenkrieg hatte nicht den erhofften Zusammenschluß der Nation bewirkt, durch die Demokratisierung des Wahlrechts war die Spaltung der Gesellschaft noch deutlicher hervorgetreten als zuvor. Der «trasformismo» Giolittischer Prägung war 1911 in Imperialismus umgeschlagen, der Krieg hatte den konservativen Kräften Auftrieb gegeben. Spätestens seit den Ereignissen vom Juni 1914 stand fest, daß es eine Rückkehr zur liberalen Reformpolitik auf absehbare Zeit nicht geben würde.[ 31 ]
Von Barcelona bis Basel: Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts (II)
War Italien, verglichen mit den Gesellschaften Großbritanniens, Deutschlands und Frankreichs, zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein relativ rückständiges Land, so ließ sich dasselbe mit noch sehr viel größerem Recht von Spanien sagen. Die spanische Bevölkerung wuchs zwischen 1875 und 1902 von 16,5 auf knapp 19 Millionen Einwohner an; der Anteil der Analphabeten sank in dieser Zeit von 75,5 auf 66,5 Prozent. Fast 70 Prozent der Spanier lebten um 1900 von der Landwirtschaft; die Hälfte (50,9 Prozent) wohnte in Orten unter 5000 Einwohnern. Die Industrialisierung blieb im wesentlichen auf das Baskenland und Katalonien beschränkt, wobei sich die Roheisenerzeugung und die Rohstahlproduktion auf die Biskaya, die Fertigindustrie, darunter Holzverarbeitung, Olivenölproduktion und die Herstellung von Textilerzeugnissen, auf Katalonien und die Mittelmeerküste konzentrierten. Das größte industrielle Zentrum war Barcelona, auf das 40 Prozent der industriellen Produktion entfielen.
Die wirtschaftliche Rückständigkeit äußerte sich auch in den Formen des sozialen Protestes. Die 1879 von Pablo Iglesias gegründete Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens, der Partido Socialista Obrero Español (PSOE), und die neun Jahre später entstandene Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) kämpften mit legalen und friedlichen Mitteln für die politische Befreiung der Arbeiter und die Besserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage, konnten aber nur im Baskenland, in Asturien, Madrid und Teilen von Andalusien Arbeiter in größerer Zahl für sich gewinnen; in Katalonien hatten sie nur wenige Mitglieder.
Die schärfste Konkurrenz der Reformisten blieben die Anarchosyndikalisten und die Anarchisten. Die ersteren hatten ihre Schwerpunkte im industrialisierten Katalonien und setzten auf den Generalstreik als die Universalwaffe zur Durchsetzung der Arbeiterforderungen. Die letzteren fanden ihre Anhänger vor allem unter Landarbeitern, Kleinbauern und Handwerkern im großagrarisch geprägten Andalusien. Die Geheimorganisation «La Mano Negra» (die Schwarze Hand) wollte, ähnlich wie die russischen Narodniki, die soziale Revolution mit den Mitteln des Terrors herbeiführen. Sie entfesselte Aufstände und verübte individuelle Gewaltakte bis hin zum politischen Mord; ihre Opfer suchte sie in den Reihen derer, die sie für Armut und Elend verantwortlich machten: bei den Großgrundbesitzern, den Vertretern der Staatsgewalt, dem Klerus. 1910 gelang der Zusammenschluß von Anarchisten und Anarchosyndikalisten zu einer nationalen Arbeitervereinigung, der Confederación Nacional del Trabajo, der CNT, die bald zur größten Gewerkschaft des Landes aufstieg.
Politisch stand Spanien zwischen 1875 und 1902 im Zeichen der bourbonischen «restauración». Vorausgegangen war 1873/74 ein kurzes republikanisches Zwischenspiel: die Folge des Unvermögens des 1870 von den Cortes gewählten Königs Amadeus I., des ehemaligen Herzogs von Aosta, eine stabile Regierung zu bilden. Die erste spanische Republik war nicht weniger instabil als das konstitutionelle Regime: Im Januar 1874 putschte der General Manuel Pavía, der sogleich
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