Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Genossenschaftliche Organisationsformen waren bei der Umstellung hilfreich, aber um die Modernisierung gelingen zu lassen, bedurfte es einer noch allgemeineren Vorbedingung: einer breiten Volksbildung. Daß es sie gab, war ein Verdienst des skandinavischen Luthertums. Einer seiner herausragenden Vertreter war der dänische Theologe und Pädagoge Nikolai Grundtvig, der Begründer der Volkshochschulbewegung, die in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Art «Kulturrevolution» im ländlichen Raum bewirkte und rasch über Dänemark hinaus auszustrahlen begann.
Den staatsrechtlichen Rahmen der politischen Entwicklung Dänemarks bildete das Staatsgrundgesetz von 1849, das 1866 einer überarbeitung unterzogen worden war. Die revidierte Verfassung gab den Dänen männlichen Geschlechts, die das 30. Lebensjahr vollendet hatten, über einen eigenen Hausstand verfügten und nicht vom öffentlichen Armenwesen abhingen, das Recht, an den Wahlen zum Folketing teilzunehmen. Das Folketing war aber nur eine der beiden Kammern des Reichstags. Im Landsting, das gleichberechtigt an der Gesetzgebung mitwirkte, bildeten die 27 nach dem (annähernd) allgemeinen Wahlrecht gewählten Abgeordneten die Minderheit. 27 Mitglieder wurden von den größten Steuerzahlern, zumeist Grundbesitzern, gewählt; 12 wurden vom König ernannt.
Die Privilegierung der Reichen wurde zur Ursache heftiger politischer Auseinandersetzungen. Zu den schärfsten Kritikern gehörte die 1880 gegründete Sozialdemokratische Partei, der Socialdemokratisk Forbund i Danmark, der wie die Schwesterparteien in Schweden und Norwegen eine entschieden reformistische Richtung einschlug. Die über längere Zeit hinweg stärkste Partei war die 1870 gegründete Venstre (Linke), eine Vereinigung von Bauernpolitikern, die 1872 die Mehrheit im Folketing errang, von König Christian IX. aber nicht an der Regierung beteiligt wurde. Der vom König ernannte Ministerpräsident, der Gutsbesitzer Jacob Estrup, erwirkte, nachdem Landsting und Folketing sich nicht auf ein Finanzgesetz hatten verständigen können, vom König zweimal, 1877 und 1885, den Erlaß provisorischer Gesetze, also gesetzesvertretender Notverordnungen, was nach der Verfassung zwar unter bestimmten Bedingungen möglich war, von der Linken aber als Verfassungsbruch angeprangert wurde. Übereinstimmung zwischen Regierungslager und Venstre gab es zu Beginn der neunziger Jahre im sozialpolitischen Bereich: bei der Verabschiedung von Gesetzen zur allgemeinen Altersversorgung und zur Krankenversicherung.
Der Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie war eine Folge der Wahlen vom April 1901, die der Venstre einen großen Sieg und der Rechten eine schwere Niederlage einbrachten. König Christian IX. ernannte daraufhin den renommierten Kopenhagener Rechtsprofessor Johann Heinrich Deuntzer zum Ministerpräsidenten. Dieser unterhielt gute Beziehungen sowohl zu Wirtschaftskreisen wie zur bürgerlichen Linken und berief mehrere Politiker der Venstre, darunter auch einen Bauern, in sein Kabinett. Einige Entscheidungen, die die neue Regierung in der Steuer- und Verteidigungspolitik traf, stießen innerhalb der Venstre auf Widerspruch und führten im Mai 1905 zur Abspaltung des linken Flügels, der sich zu einer neuen Partei, der Radikalen Venstre, zusammenschloß und mit den Sozialdemokraten darin übereinstimmte, daß Dänemark sich im Ernstfall nicht verteidigen konnte, also gut daran tat, auf sein Militär weitgehend oder auch ganz zu verzichten. Unter Deuntzers Nachfolger Jens Christensen-Standil, dem Führer einer aus dem Venstre hervorgegangenen Mittelpartei, wurden zwischen 1905 und 1908 Gesetze über eine Arbeitslosen- und die Unfallversicherung verabschiedet und die Zollsätze gesenkt.
Die alles überragende Frage der dänischen Politik war die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die die privilegierte Wählerklasse der Gutsbesitzer abschaffen sollte. Die wichtigsten Fürsprecher der Reform waren die Sozialdemokraten und die Radikale Venstre, die bei den Wahlen von 1910 beide starke Stimmengewinne erzielten, so daß der Führer der bürgerlichen Linken, Carl Theodor Zahle, der bereits den Entwurf eines neuen Staatsgrundgesetzes vorgelegt hatte, mit Unterstützung der Sozialdemokraten ein Kabinett der Radikalen Venstre bilden konnte. Am 5. Juni 1915 trat die neue Verfassung in Kraft. Sie brachte den Frauen die volle politische Gleichberechtigung mit den Männern: Alle
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