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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Vordergründig war das Ergebnis ein Sieg der Regierung Giolitti. Von den insgesamt 508 Abgeordneten gehörten 304 unterschiedlichen liberalen Gruppierungen an, konnten also als «gouvernemental» gelten. Auf die Sozialisten entfielen 79 Deputierte, von denen 52 zum Partito Socialista und 19 zur neugegründeten Partei der Riformisti gehörten; 8 waren Unabhängige Sozialisten, unter ihnen Alceste de Ambris und Arturo Labriola. Die bürgerliche, «radikale» oder republikanische Linke kam auf 90 Mandate, so daß zur Linken insgesamt 169 Parlamentarier zählten. Die Nationalisten konnten lediglich 6 Sitze erobern. Die katholische Wählerschaft hatte 48 eigene Kandidaten aufgestellt, von denen 20 gewählt wurden; dazu kamen noch 9 katholische Konservative. Der «Osservatore Romano», die Zeitung des Vatikans, stellte befriedigt fest, daß 228 Abgeordnete mit katholischer Unterstützung gewählt worden seien und 100 weitere Bewerber bei der Stichwahl dank der Stimmen der Katholiken über die Kandidaten der Umsturzparteien (partiti sovversivi) obsiegt hätten. In Sizilien kam noch Hilfe von anderer Seite hinzu: Viele regierungsnahe Wahlbewerber setzten sich, wie Giorgio Candeloro im siebten Band seiner Geschichte des modernen Italien vermerkt, mit Unterstützung der Mafia durch.
    Die Regierungsmehrheit war jedoch nicht so stark, wie es zunächst den Anschein hatte. Ihr fehlte, wie der Historiker Giuliano Procacci schreibt, die innere Geschlossenheit. «Sie war zusammengewürfelt aus Abgeordneten, die ihre Wahl mit den Katholiken ausgehandelt hatten, aus alten, unbeugsamen Antiklerikalen, aus ‹jungen Liberalen›, die sich als neue Strömung mit starken Sympathie für den Nationalismus und seine autoritären Tendenzen konstituiert hatten, und schließlich aus den gewohnten regierungstreuen Hinterbänklern, die heute Giolitti folgten und morgen seinem Nachfolger.»
    Als Gentiloni am 8. November in einem Interview mit dem «Giornale d’Italia» das Geheimnis des nach ihm benannten Paktes enthüllte und die Abmachung als ein Programm der Freiheit rühmte, antwortete die Linke mit einem Aufschrei der Empörung. Etwa 150 Abgeordnete bestritten, daß sie den Katholiken etwas zugesichert hätten. Am 27. November 1913 sprach Labriola in der Deputiertenkammer vom Ende der «situazione giolittiana». Es gebe nunmehr ein katholisches, ein sozialistisches und ein imperialistisches Italien. Die Wirtschaftskrise, unter der Italien 1913 litt, habe bei den Wahlen auf das Parlament durchgeschlagen; die Mehrheit Giolittis sei bereits tot. Als die große neue Tatsache bezeichnete Labriola den Imperialismus, der sich entsprechend den Erfordernissen des Kapitalismus, und zwar eines nicht mehr von individueller Konkurrenz, sondern von Kartellen geprägten Kapitalismus, mit dem Nationalismus verschmelze. «Der Kapitalismus wird gewaltsamer, die Nation exportiert nicht nur Waren, sondern vor allem Kapital, und sie möchte dort geschützt werden, wohin sie Kapital exportiert hat. … Was ist der Imperialismus? Das Phänomen eines Kapital exportierenden Landes, das die eigene Militärmacht in den Dienst der eigenen Kapitalausfuhr stellt.» Der Liberalismus Giolittis hatte sich, das war die Quintessenz der Rede, infolge der imperialistischen Wende überlebt. Eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten, wie sie vor dem Libyenkrieg praktiziert worden war, gehörte unwiderruflich der Vergangenheit an.
    Anfang Februar 1914 beschlossen die Radikalen auf ihrem Parteikongreß in Rom, in die Opposition zu gehen. Kurz darauf erlitt die Regierung Giolitti bei der Abstimmung über ein Gesetz, das den Vorrang der standesamtlichen vor der kirchlichen Trauung festlegte, eine Niederlage. Obwohl das Kabinett Anfang März bei einer anderen wichtigen Frage, einem Gesetz zur Deckung der Kosten des Libyenkrieges, nochmals eine breite Mehrheit erhielt, entschloß sich Giolitti zum Rücktritt – vermutlich in der Annahme, daß das Parlament ihn, wie schon zweimal in den letzten Jahren, wieder ins Amt rufen würde, wenn die Verhältnisse es erforderten. Am 21. März 1914, elf Tage nach Giolittis Demission, übernahm der von ihm als Nachfolger vorgeschlagene Antonio Salandra, ein Politiker des rechten, nationalistischen Flügels der Liberalen, das Amt des Ministerpräsidenten.
    Die erste Herausforderung, die das neue Kabinett zu bestehen hatte, war die «settimana rossa», die rote Woche, Anfang Juni 1914, ausgelöst durch Unruhen in den Marken und der Romagna, die die

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