Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
innenpolitischen Hintergedanken die deutsche Rechte internationale Krisen provozierte, zitierte der Vorsitzende der Sozialdemokraten zwei Pressestimmen. Das «Deutsche Armeeblatt» hatte während der zweiten Marokkokrise geschrieben: «Für die inneren Verhältnisse wäre ein großzügiger Waffengang auch recht gut, wenn er auch den einzelnen Familien Tränen und Schmerzen bringt.» In der freikonservativen «Post» war zu lesen gewesen: «In weiten Kreisen herrscht die Überzeugung, daß ein Krieg nur vorteilhaft sein kann, indem unsere prekäre politische Lage geklärt und die Gesundung vieler politischer und sozialer Zustände herbeigeführt wird.» Bebel kommentierte beide Aussagen mit der Bemerkung: «Man weiß nicht mehr, wie man mit der Sozialdemokratie fertig werden soll. Da wäre ein auswärtiger Krieg ein ganz vortreffliches Ablenkungsmittel gewesen.»
Von allen Seiten werde nun weiter gerüstet werden, fuhr Bebel fort, und das bis zu einem Punkt, wo der eine oder andere eines Tages sagen werde: «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende … Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit modernen Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken. Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch … Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge. Seien Sie sicher: Sie ist im Anzug! Sie stehen heute auf dem Punkte, Ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben, Ihrer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung das Totenglöcklein zu läuten.» Das Protokoll verzeichnet mehrfach «Lachen» und «große Heiterkeit» und den Zuruf von rechts: «Nach jedem Krieg wird es besser!»
Die Denkweise, die Bebel anprangerte, fand ihren klassischen Ausdruck in einem Buch mit dem Titel «Deutschland und der nächste Krieg», das Anfang 1912 erschien, rasch hintereinander mehrere Auflagen erlebte und sogleich in die wichtigsten Fremdsprachen übersetzt wurde. Verfasser war der Militärschriftsteller und ehemalige General Friedrich von Bernhardi. Unter Berufung auf Charles Darwin und seine Jünger, die Sozialdarwinisten, bekannte sich der Autor zum «Kampf ums Dasein» als der «Grundlage aller gesunden Entwicklung». Den Krieg beschrieb Bernhardi als Mittel der Auslese, durch das minderwertige oder verkommende Rassen daran gehindert würden, die gesunden zu überwuchern. Der Krieg war aber «nicht nur eine biologische Notwendigkeit, sondern auch eine sittliche Forderung und als solche ein unentbehrlicher Faktor der Kultur». Daraus ergab sich, was Bernhardi das «Recht zum Kriege» und die «Pflicht zum Kriege» nannte.
In Deutschland hatte sich, wenn man dem Autor folgte, eine tiefe Kluft aufgetan zwischen dem «Empfinden der Nation und dem diplomatischen Vorgehen der Regierung». Diese Kluft war nur durch eine umfassende Volkserziehung zu schließen. Ihr Ziel mußte es sein, Deutschland auf die Entscheidung vorzubereiten, «ob wir uns auch zu einer Weltmacht entwickeln, als solche behaupten und deutschem Geist und deutscher Lebensauffassung die Beachtung auf der weiten Erde verschaffen wollen, die ihnen heute noch versagt sind».
Bewegungen wie die Sozialdemokratie und der Pazifismus, die sich dieser Einsicht verweigerten, galt es daher zu bekämpfen. Da es um «Weltmacht oder Niedergang», «Sein oder Nichtsein» ging, mußten die «Verworrenheit der politischen Zustände» und die «geistige Zersplitterung» endlich überwunden werden. Eine Parlamentarisierung Deutschlands lehnte Bernhardi entschieden ab. «Kein Volk ist so wenig wie das deutsche geeignet, seine Geschicke selbst zu leiten, etwa in einer rein parlamentarischen oder gar republikanischen Verfassung; für keines paßt die landläufige liberale Schablone weniger als für uns.» Deutschland bedurfte einer starken Regierung, die Schluß machte mit der bisher betriebenen «Politik des Friedens und des Verzichts» und an ihre Stelle eine «Propaganda der Tat» setzte; es bedurfte der Stärkung des Heeres und der Flotte und einer frühzeitigen Erziehung der Jugend zum Waffendienst.
Organisationen, die dieselben Ziele verfolgten wie Bernhardi, gab es in großer Zahl. Zum Kolonialverein, dem Ostmarkenverein, dem Alldeutschen Verband und dem Flottenverein kam 1904 der von der Schwerindustrie und den Parteien der Rechten
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