Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
geförderte Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, dem 1909 über 200.000 Mitglieder angehörten. Seine Broschüren gegen die SPD waren zahllos, seine Erfolge dagegen bescheiden. Allenfalls bei den «Hottentottenwahlen» von 1907 trug er wohl mit dazu bei, daß sich der Stimmenzuwachs der SPD verlangsamte.
Ein weiterer nationalistischer und militaristischer Kampfverband entstand im Gefolge der zweiten Marokkokrise im Januar 1912: der Deutsche Wehrverein, der im Mai 1912 bereits 78.000 Mitglieder zählte. Er gab sich betont antigouvernemental, weil die Reichsleitung unter Bethmann Hollweg angeblich zu wenig wehrfreudig war, und bemühte sich, volkstümlich zu wirken. Aber der Wehrverein war zu sehr Honoratiorenverband, um zu einer klassenübergreifenden Massenbewegung zu werden. Er war ein typischer Ausdruck jenes «rechten» Nationalismus, der sich seit dem ersten Jahrzehnt des Kaiserreiches im mehreren Schüben im bürgerlichen und kleinbürgerlichen Deutschland ausgebreitet und zunehmend radikalisiert hatte. Der um 1911 einsetzende Schub übertraf die bisherigen durch seine Militanz: Unbedenklich forderten Politiker, Publizisten und Propagandisten einen Krieg, ja einen Weltkrieg als Ausweg aus der inneren und äußeren Krise.
«Die nervöse Großmacht»: So lautet der Titel eines Buches des Historikers und Publizisten Volker Ullrich aus dem Jahr 1997 über Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches. Im Jahr darauf legte ein anderer deutscher Historiker, Joachim Radkau, sein Buch «Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler» vor. Das deutsche Krisenbewußtsein, wie es in Bernhardis Buch von 1912 und zahlreichen Schriften, Artikeln und Reden aus den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck kam, war in der Tat durch eine auffallende Nervosität gekennzeichnet – eine Nervosität, die über das europäische «Normalmaß» jener Zeit noch deutlich hinausging. Die deutsche Unruhe wurde vor allem hervorgerufen durch das inzwischen notorische Gefühl, daß die Zeit gegen Deutschland und seinen Anspruch auf Weltgeltung arbeitete. Zum einen fanden sich die Mächte der Tripelentente, Großbritannien, Frankreich und Rußland, immer wieder zusammen, wenn es galt, machtpolitischen Ansprüchen des Deutschen Reiches entgegenzutreten: ein Sachverhalt, den man in Deutschland als «Einkreisung» wahrnahm. Zum anderen konnten alle Abwehrbestrebungen nicht verhindern, daß die Partei, die als einzige gegen die wilhelminische Weltpolitik Front machte, weiter wuchs: die Sozialdemokratie. Wenn diese Entwicklung anhielt, war der Zeitpunkt absehbar, wo es im Reichstag keine Mehrheit mehr für eine Vermehrung der Militärausgaben geben würde – also das, was das Reich nach Meinung der Rechten am dringendsten brauchte, wenn es von der Großmacht zur Weltmacht aufsteigen wollte. Am Willen zur Weltgeltung aber mußte Deutschland schon deswegen festhalten, weil es sonst kein ideales Ziel gab, mit dem man den Internationalismus der Linken bekämpfen konnte.
Zu Beginn des Jahres 1912 spitzte sich die innere Krise Deutschlands weiter zu. Am 12. Januar fand die erste Runde der Reichstagswahlen statt; am 20. und 25. Januar folgten die Stichwahlen. Die überlegene Siegerin war die SPD. Sie konnte ihre Stimmenzahl gegenüber 1907 von 3,26 auf 4,25 Millionen und ihren Stimmenanteil von 29 auf 34,8 Prozent steigern. Noch eindrucksvoller war der Zugewinn an Mandaten. Die Sozialdemokratie wuchs, vor allem dank eines Stichwahlabkommens mit der Fortschrittlichen Volkspartei, von 43 auf 110 Sitze. Die stärkste deutsche Partei waren die Sozialdemokraten schon seit 1890. Jetzt stellten sie erstmals die stärkste Fraktion im Reichstag.
Eine solide gouvernementale Mehrheit ohne die SPD war nur noch zu erreichen, wenn es zu einem großen Bürgerblock aus Konservativen, Nationalliberalen, Fortschrittlichen und Zentrum kam. Eine solche Konstellation herzustellen war schwierig. Noch größere Hindernisse standen einem Mitte-links-Block entgegen. An ihm hätten sich nicht nur die 42 Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei, sondern auch die 91 Parlamentarier des katholischen Zentrums beteiligen müssen. Die weltanschaulichen Gegensätze zwischen den drei Parteien waren jedoch so groß, daß eine derartige «Koalition» einstweilen nicht mehr als ein Phantom war. Die Reichsleitung konnte also nur versuchen, Mehrheiten von Fall zu Fall zustande zu bringen: ein Zwang, der kraftvolles Regieren nahezu
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