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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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der Juden auf die freien Berufe nur die Kehrseite einer anhaltenden Diskriminierung war, verschwieg Claß: Der öffentliche Dienst blieb Juden nach wie vor weithin versperrt.
    Auf den ersten Blick mochte es so scheinen, als habe der deutsche Antisemitismus um die Zeit, als Claß’ Buch erschien, keine große Bedeutung mehr gehabt. Bei den Reichstagswahlen von 1907 hatten die zersplitterten Antisemitenparteien noch 5,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten; fünf Jahre später erzielten sie mit 2,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1893. Der öffentliche Widerhall der parteiförmig organisierten Judenfeinde war in der Tat seit den neunziger Jahren zurückgegangen. Aber von einem Absterben des Antisemitismus konnte keine Rede sein. Er lebte fort in der Deutschkonservativen Partei, die sich in ihrem «Tivoliprogramm» von 1892 zum Kampf gegen den «vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben» bekannt hatte, im Bund der Landwirte, im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband, einer 1893 gegründeten Vereinigung kaufmännischer Angestellter, in zahlreichen studentischen Verbindungen, in der evangelischen und der katholischen Kirche. Hinzu kam der Einfluß, den vielgelesene Bücher angesehener antisemitischer Autoren ausübten: die «Deutschen Schriften» von Paul de Lagarde aus den Jahren 1878 und 1881, «Rembrandt als Erzieher» von Julius Langbehn, 1890 erschienen und seit seiner, von dem fanatischen Judenhasser Theodor Fritsch inspirierten, überarbeitung im Jahr darauf um radikal antisemitische Forderungen erweitert, und das zweibändige Werk des englischen Wahldeutschen Houston Stewart Chamberlain «Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts» von 1899, zu dessen begeisterten Lesern Kaiser Wilhelm II. gehörte.
    Sieht man von den überzeugten Liberalen ab, so war die bürgerliche Kultur Deutschlands seit langem vom Antisemitismus durchtränkt. Es bedurfte nur eines äußeren Anlasses, um der Judenfeindschaft neuen Auftrieb zu geben. Die Reichstagswahl vom Januar 1912 war ein solcher Anlaß. Vier Monate später wurde auf Betreiben von Theodor Fritsch der «Reichshammerbund» gegründet. Sein innerster Kern war der logenartig aufgebaute «Germanenorden», der das Hakenkreuz zu seinem Abzeichen machte. Als seine wichtigste Aufgabe betrachtete es der neue Verband, alle antisemitischen Aktivitäten zu koordinieren und in die unterschiedlichsten Bewegungen und Vereine einzudringen. Einer der Bünde, denen Fritsch seine besondere Aufmerksamkeit widmete, war der «Wandervogel», die 1901 gegründete Keimzelle der deutschen Jugendbewegung. Noch im Jahre 1912 begann eine Kampagne mit dem Ziel, den Bund auf den Ausschluß seiner jüdischen Mitglieder festzulegen. Nur eine Minderheit der «Wandervögel» widersetzte sich diesem Ansinnen. Auf einer Tagung zu Ostern 1914 verständigte sich die Bundesführung auf einen Kompromiß: Es blieb den Ortsgruppen überlassen, ob sie Juden aufnehmen wollten oder nicht.
    Radikale Antisemiten wie Fritsch oder Claß bildeten nur eine Minderheit der deutschen Rechten. Umgekehrt verfügten aber auch die entschiedenen Gegner der Antisemiten über keinen breiten Anhang im Bürgertum. Der 1890 gegründete Verein zur Abwehr des Antisemitismus, eine Initiative liberaler Politiker, Publizisten und Wissenschaftler, darunter der Professoren Heinrich von Gneist und Theodor Mommsen, zählte 1897 18.000 Mitglieder; 1912 dürften es nicht viel mehr gewesen sein. Es waren vor allem «Kulturprotestanten» und Linksliberale, die sich in diesem Verband betätigten. In enger Verbindung mit dem 1893 gegründeten Centralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens bemühten sie sich, antisemitischen Greuelmärchen von jüdischen Ritualmorden oder, nach dem Ersten Weltkrieg, Fälschungen wie den «Protokollen der Weisen von Zion» durch Aufklärung und Appelle an die Vernunft die vergiftende Wirkung zu nehmen.
    Mit dem Verband der Anhänger Theodor Herzls, der 1897/98 gegründeten Zionistischen Vereinigung für Deutschland, arbeitete der Abwehrverein nicht zusammen. Die zionistische Antwort auf den Antisemitismus, der Ruf nach einem Judenstaat in Palästina, war in Osteuropa sehr viel populärer als in Deutschland. Denn was immer deutsche Judenfeinde sagten und taten, für die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden war Deutschland ein Land der Aufklärung, des Rechts und des kulturellen Fortschritts: ihr Vaterland.
    Zur politischen Heimat

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