Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
für einen sofortigen Krieg mit Frankreich und Rußland. Moltke pflichtete ihm mit den Worten bei: «Ich halte einen Krieg für unvermeidlich und: je eher desto besser.» Eine Woche danach, am 15. Dezember, beschwor Wilhelm II. gegenüber Albert Ballin, dem Direktor der Hamburg-Amerikanischen Paket-Aktiengesellschaft, der «Hapag», die Unausweichlichkeit des «Rassenkampfes … der Germanen gegen die übermütig gewordenen Slawen». Der Reichskanzler teilte diese Meinung nicht. Im Zusammenspiel mit dem britischen Außenminister Sir Edward Grey arbeitete Bethmann Hollweg auf die Begrenzung und Beilegung des Balkankonflikts und damit die Vermeidung des großen Krieges hin. Der Erfolg war auf seiner Seite, so daß die Berliner «Kriegspartei» das Nachsehen hatte.
Da Serbien gestärkt aus den beiden Balkankriegen hervorgegangen war (wenn auch längst nicht so stark, wie es dies selbst wünschte), konnte auch seine große Schutzmacht, das Zarenreich, mit dem Ergebnis alles in allem zufrieden sein. Erfreulich war für St. Petersburg auch, daß Präsident Poincaré Rußland im November 1912 die volle Unterstützung Frankreichs für den Fall zugesichert hatte, daß Österreich-Ungarn Serbien angreifen und Rußland darüber in einen Krieg mit Österreich-Ungarn geraten sollte.
Ganz anders war die Lagebeurteilung in Sofia und Wien. Bulgarien fühlte sich von Rußland verraten und lehnte sich fortan noch stärker als bisher an die Mittelmächte an. Österreich-Ungarn empfand den Frieden von Bukarest wegen der Stärkung Serbiens als Katastrophe. Schon während des Ersten Balkankrieges, Ende 1912, hatte die Donaumonarchie beschlossen, die Friedenspräsenzstärke seiner Armee von 385.000 auf 470.000 Mann zu erhöhen und seine Artillerie zu modernisieren. Es löste damit ein internationales Wettrüsten aus. Rußland verstärkte im Jahr darauf sein Heer von 1,2 auf 1,42 Millionen Mann und plante, diese Zahl bis 1917 auf 1,8 Millionen zu steigern. Gleichzeitig begann das Zarenreich sein Eisenbahnnetz in Polen zum Zweck des militärischen Aufmarsches gegen Österreich-Ungarn und Deutschland auszubauen. Die deutsche Reaktion war die Heeresvermehrung vom Juni 1913, die französische Antwort hierauf die Loi des trois ans vom August 1913.
So erfolgreich Rußland als Großmacht aus den Krisen von 1912/13 hervorging, so prekär blieb seine innenpolitische Lage. Im Januar 1912 spaltete sich die radikalste der zahlreichen oppositionellen Gruppen, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, und diesmal endgültig: Auf einer Konferenz in Prag zogen die Anhänger Lenins, die Bolschewiki, den organisatorischen Trennungsstrich zum rechten Parteiflügel, den Menschewiki. In den Jahren zuvor hatten sich die beiden Richtungen mehr denn je zerstritten. Die Menschewiki, seit dem Londoner Parteikongreß vom April 1907 die Minderheit, befürworteten die Mitarbeit in der Duma und die Ausnutzung aller legalen Möglichkeiten; die Bolschewiki betrachteten den bewaffneten Aufstand als das revolutionäre Kampfmittel schlechthin und das Parlament nur als Forum der Propaganda. Die Menschewiki bejahten die Zusammenarbeit mit bürgerlichen und adligen Liberalen, besonders aber mit der radikalen Intelligenz; die Bolschewiki setzten, darin den Sozialrevolutionären ähnlich, auf die Bauern als Hauptverbündete im revolutionären Kampf. Die Menschewiki gestanden den Gewerkschaften eine gewisse Unabhängigkeit zu; die Bolschewiki sahen in den Gewerkschaften nur ein politisches Instrument der Partei, der Avantgarde des revolutionären Proletariats.
Als Marxist ging auch Lenin davon aus, daß in Rußland zunächst nicht die proletarische, sondern die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stand. Um die bürgerliche Revolution zum vollen Sieg über den Zarismus zu bringen, müsse ihr das Proletariat seinen Stempel aufdrücken, schrieb der Führer der Bolschewiki im August 1905 in seiner Schrift «Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution». Lenin berief sich dabei auf Marx’ Interpretation der jakobinischen «terreur» in der Französischen Revolution. «Gelingt der entscheidende Sieg der Revolution, dann werden wir mit dem Zarismus nach Jakobinerart oder, wenn ihr wollt, plebejisch fertig werden … Die Jakobiner der modernen Sozialdemokratie – die Bolschewiki … – wollen mit ihren Losungen das revolutionäre und republikanische Kleinbürgertum und besonders die Bauernschaft auf das Niveau des konsequenten Demokratismus
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